Everlasting
ausgelassene Tanzerei im«Mix and Kiss», der Alkoholkonsum und die unterschwellige Langeweile des Abends taten das Ihrige. Erst Stunden später, als er am Morgen bei knallblauem Himmel erwachte, konnte er den Roman zu Ende lesen.
Er hatte das Buch vor Jahren schon einmal in der Schule gelesen, im Fach «Britische Klassiker», zusammen mit Dickens, Rowling und Wilde. Als Schuljunge hatte er die Geschichte ein bisschen blöd gefunden, eine Art Märchen aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Erst jetzt wurde ihm klar, dass es im Grunde voller augenzwinkernder Ironie war, und er vermutete, dass ein Mädchen wie Eliana zu jung und unerfahren war, um das voll zu erfassen. Wahrscheinlich hatte sie sich rettungslos in den stattlichen Mr. Darcy verguckt und hoffte, genau wie die Heldin des Buches, Miss Elizabeth Bennet, die wahre Liebe und 10 000 Pfund im Jahr zu finden – oder die entsprechende Summe in Euro.
Wahre Liebe. Wie albern. Und doch … wie faszinierend. Konnte eine temperamentvolle aufgeweckte junge Lady wie Miss Elizabeth Bennet denn wirklich eine so verheerende Wirkung auf einen vernünftigen, pragmatischen Mann haben wie beispielsweise –
Ein Plinkblink riss Finn aus seinen Gedanken. Es war eine Nachricht von Dr. Dr. Sriwanichpoom. Level 2 war startbereit. Zeit, nach Berlin zurückzukehren.
10 In Zeiten des Caffè Latte
Finn fühlte sich diesmal wohl in dem historischen Kostüm, das man extra für ihn angefertigt hatte. Rouge und er hatten sich für die Moderichtung «konservativ-leger–bequem» entschieden. Mit den riesigen Schulterpolstern seines Lederblousons fühlte er sich zwar etwas seltsam, fast wie ein amerikanischer Footballspieler, aber seine nougatfarbene Bundfaltenhose war angenehm bequem geschnitten, und sie rutschte nicht ständig herunter. Das war auch gut so, denn der Minislip, den man ihm verpasst hatte, sah ausgesprochen komisch aus. Er war mit dicken roten Lippen und den Worten «Kiss Me» übersät.
«Steht auf deiner Unterwäsche auch ‹Kiss Me›?», wollte Finn von Rouge wissen.
«Meine Güte, nein.»
«Gut so.»
«Bei mir auf dem Slip steht ‹Eat Organic.›»
Auch Rouge wirkte in ihrer ledernen Patchworkjacke wie eine Footballspielerin, ansonsten stand ihr der kurze, knappe Rock hervorragend.
Man hatte sie gebrieft, sie wussten, was sie auf Level 2 erwartete. Einige Wochen zuvor hatte Finn sich mit Frühjahr 2004 als Eintrittszeit einverstanden erklärt. Startpunkt würde wieder eine öffentliche Toilette in Berlin sein,rund zwanzig Minuten Fußweg von dem Ein- und Ausstiegspunkt in Level 1 entfernt. Er hatte den Auftrag, einen Stadtplan von Berlin zu kaufen und dann den Weg zurück zur Wilmersdorfer Straße zu finden, der Fußgängerzone in Charlottenburg, die sie in Level 1 besucht hatten. Er und Rouge sollten sich etwas zu essen besorgen, drei oder mehr Gespräche beginnen und zwei Bekanntschaften schließen, ehe sie in der City Toilette von Level 1 die Spielarena wieder verließen. Sie würden zwei Stunden für alles Zeit haben.
«Alles klar?», fragte Professor Grossmann.
Der Game-Raum wurde dunkel. Und ehe er sich’s versah, wurde Finn zurück in das Spiel «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» gesaugt.
Das muss aber ein besonders belebtes Stadtviertel sein, dachte Finn. Selbst innerhalb der vier Wände der City Toilette konnte er die Geräusche von Motorfahrzeugen hören: gellende Hupen, quietschende Bremsen, heulende Sirenen, dröhnende und tuckernde Motoren. Sobald er nach draußen getreten war und den üblen Uringestank hinter sich gelassen hatte, roch es auch nach dem fossilen Brennstoff, mit dem die Motorfahrzeuge betrieben wurden: Benzin. Der Geruch war überall. Aber es lag auch Frühling in der Luft. Es war zwar kühl und es nieselte, doch die Bäume zeigten schon einen Hauch Grün.
«Wir haben einen Schirm», sagte Rouge. Sie griff in ihre Handtasche und förderte einen altertümlichen zusammenklappbaren Regenschutz mit Metallspeichen zutage.
«Voilà!»
, sagte sie und drückte einen Knopf. Aber nichts geschah. Sie drückte noch einmal. Wieder nichts. «Oje», sagte sie. «Im OZI hat er noch funktioniert.»
Während Rouge sich noch mit der Mechanik des Schirms abmühte, schaute Finn sich um. Seine Augen huschten von Restaurant zu Café zu Boutique zu Kneipe. Die Autos! Und Busse mit Oberdeck! Er hatte das alles schon mal gesehen, auf zahllosen Fotos, in den Zelluloids, Videos und Spielen, aber hier wirkte alles so
Weitere Kostenlose Bücher