Everlasting
genau so erleben wie er? Sie sah schließlich dasselbe wie er.
Finns Aufmerksamkeit wurde von einem Schaufenster angezogen, in dem orthopädische Hilfsmittel, Bandagen, Orthesen und Brustprothesen aus Silikon auslagen. Für Finn und Rouge, die nur organisch gezüchtete Ersatzkörperteile kannten, sahen die Prothesen aus wie die plumpen Gliedmaßen einer riesigen Marionette, nicht wie menschliche Arme und Beine. Sie starrten in das Schaufenster, bis der Klang einer Drehorgel sie ablenkte. Weitervorne, in der Seitenstraße, an der nächsten Ecke, sahen sie einen Leierkastenmann, der die Kurbel seines Instruments drehte. Dahinter herrschte wuseliges Treiben. Ein Markt.
Finn und Rouge folgten der Musik. An der Ecke saßen Leute vor einem Café unter großen Sonnenschirmen, die sie vor dem Aprilregen schützten. «Dreimal Caffè Latte und ein Espresso», sagte eine Kellnerin zu vier Frauen, die alle schwarz gekleidet waren, dunkelroten Lippenstift und schwarze Stiefel trugen und aufgeregt durcheinanderredeten. Finn stutzte. Hatte sein Unterbewusstsein etwa auch diese Szene erschaffen? Hatte Eliana in ihrem Tagebuch nicht erwähnt, ihre Mutter säße regelmäßig mit ihren Freundinnen, den Ladies in Black, in einem Café am Markt und tränke Caffè Latte? Das war ja fast schon unheimlich! Ihm kam der Gedanke, dass er im Verlauf der nächsten Stunde vielleicht sogar Eliana erfinden würde. Ihm war aber eigentlich nicht danach, einer Eliana zu begegnen, die seine Phantasie erfunden hatte. Sie war gut so, wie sie war: die 250 Jahre alte Tagebuchstimme eines dreizehn- und vierzehnjährigen Mädchens.
Finn und Rouge schlenderten über den Markt und blieben an einem Marktstand stehen, um sich die Blumen anzusehen. «Hast du dich schon mal gefragt, wie dieses Spiel funktioniert?», fragte er.
Sie sah ihn verwundert an. «Nein. Wieso?»
«Dieser Spieler vermutet, das Spiel verwendet die Gedanken von Spieler Eins als Stoff, um daraus Ereignisse und Menschen zu entwickeln. Die Struktur des Spiels ist möglicherweise vorgegeben, aber das Unterbewusstsein des Hauptspielers erfüllt das Ganze erst mit Leben.»
«Hört sich ziemlich kompliziert an.»
«Wir erleben hier so viele Dinge, die einfach keine Zufällemehr sein können. Dieser Historiker hat erst kürzlich eine Tagebuchpassage übersetzt, die sich auf den 24. April 2004 bezieht, und, Abrakadabra, genau dieses Datum haben wir heute. Eliana hat in ihrem Tagebuch Hubba Bubba erwähnt. Wir finden es. Sie schreibt von der Kantstraße. Und dass ihre Mutter und deren Freundinnen Schwarz tragen und den ganzen Nachmittag im Café sitzen und Caffè Latte trinken.
Voilà
, da sind sie.» Er deutete auf das Café auf der anderen Straßenseite.
«Aber wir sehen doch auch vieles, was Eliana nicht erwähnt, oder?»
«Ja. Aber das ist wahrscheinlich schon in der Spielstruktur angelegt. Oder es ist tief im Unterbewusstsein dieses Mannes verborgen und wird nun Teil des Spiels.»
Rouge starrte ihn an.
«Du hältst das alles für
baloney
, oder?», sagte Finn.
«Kann sein. Vielleicht bist du aber so nett und erklärst mir zuerst, was
baloney
eigentlich ist?»
Finn grinste. «Nordamerikanisches Slangwort, heißt so viel wie Unsinn, Quatsch, Blödsinn. B-a-l-o-n-e-y. Eigentlich das Wort ‹Bologna›, eine einfache italienische Wurst; wurde in den 1930ern als Ausruf populär.»
«Danke. Sobald wir zurückkehren, wird es seinen Platz in dem persönlichen B B-Wörterbuch dieser Lernenden finden», sagte sie. «Die Antwort auf deine Frage lautet also Ja. Deine Interpretation des Spiels ist
baloney
.» Sie sah Finn in die Augen, verschränkte dann die Finger in seinem Nacken und zog ihn zu sich. «Du hast eine lebhafte Phantasie, Finn Nordstrom. Diese Freundin mag dich gerade deswegen, und vielleicht ist deine Phantasie auch der Grund dafür, dass du ausgesucht worden bist, dieses Spiel zu testen. Aber pass auf, dass sie nicht mit dir durchgeht.»
Er hob eine Hand und strich ihr über die Wange. Eine Fingerkuppe streifte ihre Lippen. Rouge küsste sie. Er sah sich selbst, einen schwarzer Schatten, der sich in ihren grünen Augen spiegelte, näher und näher kommen.
«Tulpen!», schrie der Blumenverkäufer neben ihnen. «Fünf Euro das Dutzend!»
Sie mussten lachen, als sie sich voneinander lösten, der Zauber des Augenblicks war verflogen.
«Komm, wir besorgen uns was Warmes zum Mittagessen», sagte Rouge nach einem Blick auf die Uhr. «In siebenundsiebzig Minuten müssen wir am
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