Everlasting
Tagebüchern herausgelesen, und das spürte er auch jetzt. Aber Finn sah auch eine gewisse Härte in seinem Gesicht, etwas Grimmiges und Starres. Das musste der Schmerz sein. Es musste entsetzlich sein, das eigene Kind zu verlieren, es sterben zu sehen, in dem Wissen, dass es leidet und Angst hat.
«Sind wir uns schon mal begegnet?», fragte Herr Lorenz, und musterte Finn.
«Ich glaube nicht», sagte Finn.
Der Mann machte einen Schritt auf Finn zu. «Entschuldigen Sie, wie war noch gleich Ihr Name?»
«Finn.»
«Finn?», sagte er und lächelte fast.
Eliana hakte sich bei ihrem Vater ein. «Wir haben ihn und seine Freundin Rouge letztes Jahr bei Dusenhuber kennengelernt. Mama, Madeline –»
Finn wurde ganz verlegen. «Nein. Sie ist nicht –»
Sie sahen ihn an.
«Sie ist nicht meine Freundin», stammelte Finn heraus. «Wir sind … bloß Studienfreunde.»
«Rouge?», sagte Herr Lorenz.
Finn nickte.
Herr Lorenz rieb sich die Stirn.
Finn fühlte sich plötzlich fehl am Platz. Er gehörte nicht hierher, nicht zu den Trauergästen. Er wandte sich zum Gehen. «Ich glaube, es wird Zeit –»
«Warten Sie.» Herr Lorenz brachte ein Lächeln zustande. «Sind Sie der, der den Kaugummi runtergeschluckt hat?»
«Ich fürchte ja», gab Finn zu.
«Sie haben großen Eindruck auf die Mädchen gemacht. Madeline hat Ihre Kaugummis sogar aufbewahrt. In einer kleinen Schachtel. Sie –» Seine Augen wurden feucht, und Finn dachte, der Mann würde gleich losweinen. Doch er straffte seine Schultern, atmete tief ein und hatte sich wieder gefangen. «Haben Sie schon das Kondolenzbuch gesehen?», fragte er.
«Kondolenzbuch? Nein, habe ich nicht.»
«Es liegt in meinem Arbeitszimmer.»
«So viele Bücher!», platzte Finn heraus.
Herr Lorenz’ Arbeitszimmer war ein wahres Paradies. Überall nur Bücher, kein freies Fleckchen Wand.
Robert und ein Junge in seinem Alter standen über ein Holzpult gebeugt und schauten auf, als sie hereinkamen.
«Ich habe noch nie eine Wohnung mit so vielen Büchern gesehen!», sagte Finn.
«Jaja. Aber wehe, man sucht ein bestimmtes», sagte Elianas Bruder, Robert.
Er hatte ein offenes Gesicht, dachte Finn, wie die Mädchen, und wie ihre Mutter.
«Robert. Max. Das ist Finn … ähm», sagte Eliana. Sie drehte sich zu Finn um. «Wie heißt du eigentlich mit Nachnamen?»
«Nordstrom.»
«Also dann, Herr Nordstrom», sagte Herr Lorenz und deutete auf ein großes aufgeschlagenes Buch auf dem Pult, «würden Sie sich vielleicht auch in das Kondolenzbuch eintragen?» Er nahm ein Schreibgerät aus der Brusttasche.
In das Kondolenzbuch eintragen? Finn hatte in seinem ganzen Leben noch nie mit der Hand seinen Namen geschrieben! Aber nach einem panischen Augenblick dachteer, dass er es vielleicht hinkriegen könnte. Schließlich waren die meisten Unterschriften, die er im Rahmen seiner Arbeit gesehen hatte, auch nur unleserliche Kritzeleien.
Finn trat an das Pult und blickte in das Kondolenzbuch … . Oje, oje, da hatte er sich ja was Schönes eingebrockt! Die Gäste hatten nicht einfach nur unterschrieben, sondern den vollen Namen mit Adresse eingetragen. Finn sah Dutzende von Namen, und
alle
waren klar und deutlich geschrieben. Manche hatten ihre Schreibschrift verwendet, andere Druckschrift. Konnte er Druckbuchstaben schreiben? Wahrscheinlich. Das war um einiges leichter als Schreibschrift mit all den Schlaufen.
Finns Magen verkrampfte sich, als er nach dem Stift griff. Vier Augenpaare waren jetzt auf ihn gerichtet, und er spürte, wie ihm plötzlich die Ohren schwitzten. Die Ohren! Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm je die Ohren geschwitzt hatten.
Das Schreibgerät von Herrn Lorenz war ein Füllfederhalter. Er sah so ähnlich aus wie der in dem Onyx-Kästchen seines Vorfahren. Er lag ähnlich schwer in der Hand und war ebenso schwarz und hochglänzend.
Finn versuchte, sich daran zu erinnern, wie die Schauspieler in den Zelluloids Füller in der Hand hielten. Er nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. So viel wusste er. Aber musste er ihn senkrecht halten oder eher schräg? Er beugte sich über das Pult wie ein Verurteilter unter das Messer der Guillotine.
Finn setzte die Feder aufs Papier und kritzelte eine Unterschrift hin. Okay. So weit, so gut. Dann schrieb er ein «F» in Druckbuchstaben. Eine lange senkrechte Linie, zwei kurze waagerechte. Dann ein «i». Ein kurzer senkrechter Strich mit einem Punkt obendrauf. Er blickte auf und sah,dass die Jungen
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