Everlasting
nicht erkannt auf dem Friedhof. Ich dachte, Sie seien Chauffeur bei der Mafia oder so was.» Sie lächelte.
Was war eigentlich die Mafia? Etwas Kriminelles, aber was genau? Vorsichtshalber lächelte er zurück.
«Sehr schick», sagte sie. «Schwarzer Anzug, schwarzes Hemd, schwarze Krawatte. Greifswald bekommt Ihnen.»
Rouge wird begeistert sein, wenn sie das hört, dachte Finn.
«Woher wussten Sie eigentlich von der Beerdigung?», wollte sie wissen.
«Aus der Zeitung», sagte eine Stimme von der Tür her.
Es war Rouge.
«Wir haben die Anzeige gesehen», sagte Rouge, «und dann Ihre Vornamen. Angelika und Eliana.»
«Verstehe. Sind Sie nicht ein bisschen zu jung dafür, die Todesanzeigen zu durchforsten?»
Rouge zuckte die Achseln. «Finn, wir müssen dann los», sagte sie auf Englisch. Sie sah Elianas Mutter an und wechselte wieder ins Deutsche. «Unser Zug geht bald.»
«Essen Sie vorher noch etwas», sagte Angelika Lorenz. «Und nehmt euch was mit für unterwegs. Ich weiß gar nicht, wohin mit dem ganzen Fraß.»
Während Finn seine Suppe löffelte, fielen ihm fast die Augen zu.
«Wir haben uns schon gedacht, dass du müde wirst», sagte Rouge leise. «Zeitlag. Wir müssen dich hier schnellstens rausschaffen.»
Wo war Eliana? Vorhin hatte er sich mit ihr und den Drei Js auf dem Balkon unterhalten, aber nun waren sie nicht mehr da.
«Geh», sagte Rouge. «Such sie. Verabschiede dich.»
Als Finn aufstand, begann sich der Raum um ihn herum zu drehen. Er hielt sich am Tisch fest.
«Nicht gut», sagte Rouge. «Wir müssen zusammen gehen.» Sie fasste ihn am Arm. «Der Professor hat uns etwas mitgegeben, das du einnehmen sollst, falls es schlimm wird.»
Sie hörten die Stimmen der Mädchen, hinten, am Ende des langen Flurs. Als sie dort ankamen, stand die Tür offen, aber Finn klopfte trotzdem. Die Mädchen erschraken und schauten alle gleichzeitig auf. Eliana stand auf.
«Wir müssen leider gehen», sagte Finn.
«Und die Kaugummis?», fragte sie.
«Die werden warten müssen.»
Sie nickte. «Ist in Ordnung. Ich habe sie in Sicherheit gebracht.» Sie ging zu ihrem Nachttisch und öffnete die Schublade. «Hier.»
Finn folgte ihr. Und da war sie, die kleine Schachtel. Doch daneben lag eine sehr viel größere Überraschung: Elianas Tagebücher. Alle drei in einer Schublade: das pinkfarbene mit dem Vinylumschlag, das burgunderrote aus Kalbsleder und das neue gestreifte. Dass sie tatsächlich existierten, genau hier, nur wenige Zentimeter von ihm entfernt, war auf einmal so verstörend, so surreal, dass Finn fürchtete, ohnmächtig zu werden. Ihm wurde ganz leicht im Kopf, so als würde er gleich über die Dächer von Berlin fortschweben. Alles schien so weit weg. Wie war es möglich, dass diese Tagebücher hier existierten, in diesem Zimmer, im Juni 2005, aber auch in seiner Zeit, unten in den Katakomben, im Januar 2265? Wie war das möglich?
«Alles in Ordnung?», fragte Eliana besorgt.
«Könnten wir bitte ein Glas Wasser bekommen?», fragte Rouge und kramte in ihrer Tasche herum, bis sie eine Tablette zutage förderte.
Eine von den Drei Js sprang auf und bot Finn ein Glas Wasser an.
«Nimm das», sagte Rouge und gab Finn die Tablette.
Er schluckte sie. «Die Hitze», sagte er. «Mir geht’s gleich wieder gut.»
«Du siehst ein bisschen käsig aus», sagte Eliana. «Mach doch deine Krawatte auf. Oder –» Sie schaute zu Rouge, aber Rouge stand einfach da und reagierte nicht. «Warte, ich helfe dir», sagte Eliana. Sie trat zu Finn und hob die Hände. Und in diesem Moment, nicht länger als zwei, drei Sekunden, gerade in dem Augenblick, in dem die beiden sich gegenüberstanden und einander ansahen, stieg in Finn eine unendliche Zärtlichkeit für das Mädchen auf. Fast so wie die Zärtlichkeit, die er für seine Familie empfunden hatte. Aber noch nie hatte er sie bei einem anderen Menschen auch nur annähernd erlebt. Die Intensität dieses Gefühls nahm ihm einfach den Atem … . Aber dann zog Eliana an dem Krawattenknoten, und Rouge legte ihm einen Arm um die Schultern, und alles war wieder normal.
«Finn», sagte Rouge drängend, «wir müssen wirklich los.»
Eliana fing Finns Blick auf – und er nickte. «Wir müssen.»
«Schreib mir», sagte Eliana. «Die Adresse kennst du ja. Oder warte: Ich gebe dir meine Telefonnummer.» Sie nahm hastig einen Stift und ein Stück Papier, schrieb ihre Nummer auf, faltete den Zettel zusammen und schob ihn in seine Tasche.
Er sah Eliana an.
Weitere Kostenlose Bücher