Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
Asphalt zu sehen, die für jeden anderen simple Ölflecken sein könnten. Ich aber weiß, dass es Blut ist. Kaileys Blut. Auch die schwarzen Bremsspuren sind deutlich zu sehen, wie Narben auf der Straße.
Das Auto dagegen ist verschwunden.
Panik droht mich zu überwältigen, doch ich zwinge mich, tief durchzuatmen. Wahrscheinlich ist es nur abgeschleppt worden. Nichts darin kann mit dir in Verbindung gebracht werden, bis auf die Fingerabdrücke eines Menschen, der längst zu Staub zerfallen ist.
Auch diese Gedanken können mich nicht beruhigen, weshalb ich alle Vorsicht fahren lasse, zu dem Kran renne und die Leiter hinaufklettere. Auf der zweiten Sprosse von oben rutsche ich mit dem Fuß ab und schnappe erschrocken nach Luft, als ich fast nach unten stürze. Ich klammere mich an den Griffen fest, und nachdem ich wieder Fuß gefasst habe, hieve ich mich über den Rand auf den Kran.
Hier oben weht ein kräftiger Wind, der ein entferntes Lachen und ein lautes Pfeifen mit sich bringt. Doch ich höre nichts, fühle nichts, denn ebenso wie mein Auto ist auch meine Tasche verschwunden.
In diesem Moment schiebt sich eine graue Wolke vor die Sonne, und es beginnt zu regnen. Als die dicken Tropfen Kaileys Haare und Kleider zu durchnässen beginnen, steigt Panik in mir auf. Das darf einfach nicht wahr sein! In dieser Tasche war alles – mein alter Ausweis, mein Geld, Cyrus’ Buch.
Taryn.
Ich sinke auf die Knie. Sie war eine Süchtige, und nach sechshundert Jahren Erfahrung bei der Beobachtung menschlichen Verhaltens kann ich mir die Szenerie nur allzu gut vorstellen. Nachdem sie gesehen hat, wie mein Körper zu Staub zerfiel – was sie für eine drogenbedingte Halluzination gehalten haben mag –, kletterte sie auf den Kran, auf der Suche nach dem Engel, der versucht hatte, sie zu retten. Stattdessen fand sie die Tasche, in der ein Autoschlüssel, Geld, eine neue Identität und ein seltsames altes Buch lagen.
Das Horn eines Schiffes im Hafen stößt einen traurigen Ruf aus, ein Kran in der Nähe erwacht zum Leben, und der Geruch nach verfaulendem Gemüse steigt mir übelkeiterregend in die Nase. Was Taryn wohl mit dem Buch machen wird? Tausend verschiedene Möglichkeiten schießen mir durch den Kopf. Sie könnte versuchen, es an ein Antiquariat zu verkaufen, wenn sie Geld für den nächsten Schuss braucht. Es könnte auch bei der Polizei landen, falls sie festgenommen wird … oder an einer Überdosis stirbt.
Noch schlimmer allerdings: Sie könnte bereits ein Foto davon bei Twitter gepostet haben, zusammen mit einem Kommentar, dass jemand am Jack London Square versucht hat, einem Mädchen mit Mund-zu-Mund-Beatmung das Leben zu retten, und sich dann in Staub aufgelöst hat. Hundertvierzig Zeichen oder weniger, die Cyrus zu mir führen würden. Zweifellos durchforstet er gerade das Internet nach Hinweisen, ob ich noch am Leben sein könnte. Jared würde als Buße, dass er mich hatte entwischen lassen, garantiert bis ans Ende der Welt gehen, um mich zurückzubringen.
Ich weiß nicht, was es bedeutet, dass ich im Moment immer noch am Leben bin, und ob ich diesen neuen, gesunden Körper behalten oder ins Hafenbecken springen sollte, um das zu Ende zu führen, was ich letzte Nacht begonnen habe. Eines weiß ich jedoch ganz sicher: Ich werde niemals zu Cyrus zurückgehen. Und wenn es in meiner Macht steht, wird Cyrus auch niemals das Buch zurückbekommen.
Rasch klettere ich die Leiter wieder nach unten und überspringe die letzten vier Sprossen bis zum Boden. Den Schmerz, der meine Beine hinaufschießt, ignoriere ich einfach und laufe schnell davon. Dann biege ich scharf rechts in die Second Street ein, auf die Bar zu. Vielleicht kennt der Barkeeper Taryn, und mit ihrem Familiennamen gelingt es mir eventuell, sie aufzuspüren.
Knappe zehn Meter von der Bar entfernt heult eine Polizeisirene auf. Meine Stirn ist schweißbedeckt, mein Magen krampft sich zusammen, und ein Schmerzensschrei sitzt mir in der Kehle. Ich überlege einen Moment, aber dann wird mir klar, dass ich niemals vor einem Streifenwagen davonrennen kann. Schweren Herzens werde ich keuchend langsamer und sehe, wie der Officer, der mir schon vorhin gefolgt ist, aussteigt und auf mich zukommt.
»Entschuldigung, Miss«, sagt er, »sollten Sie nicht in der Schule sein?«
Ich beuge den Oberkörper nach vorn, um wieder zu Atem zu kommen, und verschlucke einen Schwall Flüche. Ich hatte vergessen, wie jung ich in diesem sechzehnjährigen Körper aussehe.
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