Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
eine solide Ausbildung in Mathematik, Naturwissenschaften und Literatur mitgegeben. Ich könnte leicht chemische Gleichungen lösen, über Sokrates diskutieren oder die gesamte griechische Geschichte referieren.
An der Tür des Biologiesaales erstarre ich, als mich ein Gedanke durchzuckt – wo ist überhaupt mein Sitzplatz? Durch das Fenster in der Tür sehe ich Noah in einer der vorderen Reihen sitzen und frage mich, warum er mich mit dem Auto mitnimmt und mir Cupcakes bringt, mich in der Schule aber ignoriert. Dass ich schon so lange lebe, hat das Verhalten von Jungen im Teenageralter nicht weniger rätselhaft für mich gemacht. Dennoch gehe ich auf ihn zu – immerhin ist er der Einzige, den ich hier kenne –, als mich der Lehrer aufhält.
»Miss Morgan«, sagt er ernst, »bitte setzen Sie sich doch auf den Ihnen zugeteilten Platz, damit wir anfangen können.«
Ich halte inne und blicke in die Richtung, in die der Lehrer gedeutet hat. Dort sind zwei Plätze nebeneinander leer, und ich gehe zögernd darauf zu.
»Heute noch, Miss Morgan«, drängt mich der Lehrer.
Ich atme tief durch, werfe eine imaginäre Münze und wähle den Platz vor einem hübschen Mädchen mit langem, glänzend braunem Haar. Sie wirft mir ein Lächeln zu, das ihre kalten Augen jedoch nicht erreicht. Ich sehe noch einmal zu Noah hinüber, bevor ich mich hinsetze. Sie folgt meinem Blick. Auf einmal erkenne ich sie wieder: Nicole Harrison, das Mädchen, mit dem Kailey aus irgendwelchen Gründen nicht bei Facebook befreundet ist.
Die anderen Schüler haben bereits ihre Hefte und Bücher geöffnet auf den Labortischen liegen, und ich tue es ihnen rasch nach. Kaileys Heftseiten sind am Rand mit Kritzeleien versehen – Blumen, Skizzen von ihren Mitschülern, abstrakte Muster. Kunst war wirklich ihr herausragendes Talent.
Ich schlage eine neue Seite auf und beschrifte sie in meiner altmodischen Handschrift mit dem heutigen Datum: 18. Oktober. Einen Moment lang starre ich darauf, bis mir bewusst wird, dass ich Kaileys Schrift nachahmen muss, die, wie ich mit strengem Blick feststelle, entsetzlich ist. Ich blättere um und fange von neuem an, versuche, mich zu entspannen, damit die Muskeln sich an ihre ursprüngliche Handschrift erinnern.
»Zellatmung« schreibt der Lehrer an das Whiteboard hinter ihm und beginnt mit dem Unterricht. Pflichtbewusst notiere ich den Ausdruck, doch meine Gedanken schweifen sofort ab.
Wie soll ich meine Flucht angehen? Mir wird klar, dass ich nicht einfach verschwinden kann. Die Morgans würden mich ganz sicher als vermisst melden, und mein Gesicht würde in jedem großen Nachrichtenkanal im ganzen Land zu sehen sein. Eine solche groß angelegte Suchaktion in der Bay Area würde garantiert Cyrus’ Aufmerksamkeit erregen. Im Stillen danke ich dem Officer, der mich gestern aufgesammelt hat.
Doch egal, in welche Richtung meine Gedanken wandern, ich komme immer wieder zu demselben Schluss: Die Morgans müssen denken, dass Kailey tot ist. Nur so wird nie wieder jemand nach dem Mädchen suchen. Soll ich einen weiteren Autounfall vortäuschen? Ein Feuer? Einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem steht, dass ich von der Golden Gate Bridge gesprungen bin?
Mir wird schlecht bei meinen kaltschnäuzigen Planungen, auch wenn mir klar ist, dass ein vorgetäuschter Unfall das Beste ist, was ich für die Morgans tun kann, und zudem der ehrlichste Weg, Kaileys Andenken zu bewahren. Darüber hinaus kann ich mir nur selbst versprechen, nach diesem Körper hier keinen weiteren mehr zu beanspruchen. Ich werde so lange wie möglich hierbleiben, bis zum letzten elenden Atemzug. Dürftig, ich weiß, aber mehr habe ich nicht zu bieten.
Das Vibrieren von Kaileys iPhone, das hinten in meiner Jeans steckt, holt mich in die Gegenwart zurück. Die Wanduhr zeigt mir, dass die Stunde in ein paar Minuten vorüber ist. Der Lehrer doziert weiter monoton vor sich hin, und ich frage mich, wie die anderen Schüler dabei wach bleiben können. Als ich mich umschaue, blicke ich in ein Meer von schläfrigen, gelangweilten Augen.
Verstohlen ziehe ich das Handy aus der Hose und werfe unter dem Tisch einen Blick darauf. Eine SMS von Leyla.
ich vermisse dich! bist du heute eigentlich hier?
Eigentlich nicht, denke ich, als die Glocke ertönt.
Nach der letzten Stunde vor der Mittagspause bin ich erschöpft und nervös. Der Unterrichtsstoff ist leicht, die soziale Dynamik hingegen nicht. Ich habe keine Ahnung, wo mein Platz ist oder mit wem ich
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