Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
reden soll, und die Lehrer sind jedes Mal vollkommen verblüfft, wenn ich die Antwort weiß. Kailey war offensichtlich nicht die fleißigste Schülerin, aber ich kann nicht ermessen, ob sie nicht schlau genug oder einfach nur desinteressiert war.
Nach dem Englischunterricht – Shakespeare I – lasse ich mich vom Strom der Schüler in Richtung Cafeteria mitziehen, einem großen, runden Raum, dessen Wände fast ausschließlich aus Glas bestehen.
Als ich die Gesichter um mich herum absuche, überkommt mich plötzlich Panik. Einige wirken irgendwie vertraut, doch ich sehe keins der Mädchen, deren Gesichter ich mir gestern Abend eingeprägt habe. Ich kann nicht einmal Noah oder Bryan entdecken – noch nie in meinem ganzen langen Leben habe ich mich deplazierter gefühlt.
»He, was machst du denn?«, höre ich eine Stimme an meinem Ohr und spüre gleichzeitig, wie mich eine Hand am Ellbogen packt.
Ich wirbele herum und sehe, wer mich angesprochen hat: Leyla Clark, Kaileys beste Freundin. Schnell setze ich ein Lächeln auf, um meine Überraschung zu verbergen. »Hi, Leyla.«
»Oh, hallo, Kailey«, äfft sie mich nach und führt mich von der Cafeteria weg. Der Anblick ihrer Kleidung überwältigt mich, ein bunter Patchwork-Rock, der handgenäht aussieht. Ich frage sie nicht, wohin wir gehen – ich bin so erleichtert, nicht allein in die Cafeteria zu müssen, dass ich freudig überall mit hingehe.
»Ich bin so froh, dass du wieder da bist. Geht es dir gut? Bryan hat gesagt, du wärst krank. Aber eigentlich sollte ich dir dankbar sein, dass ich eine Ausrede hatte, um mit ihm zu sprechen!« Sie plappert den ganzen Weg durch den leeren Theaterflügel weiter, bis wir eine schmale Treppe erreichen. Für einen Moment muss ich an die Treppe im Emerald City denken. Mich ergreift das Gefühl, dass ich gleich, wie in jener Nacht, eine Schwelle überschreiten werde.
»Was ist denn nur los mit dir? Alle warten schon!« Leyla lächelt mich ungeduldig an, und ich folge ihr die knarzenden Stufen hinauf. Sie schlägt einen Vorhang zur Seite, und wir betreten einen kleinen Geheimraum.
Lachen und der Geruch nach chinesischem Essen begrüßen mich. »He, Kailey, willkommen zurück!«, sagt ein Mädchen. Ihr elfenbeinfarbener Kaschmirpullover bildet einen starken Kontrast zu ihrer kaffeebraunen Haut. Das muss Chantal Nixon sein. Sie ist sehr viel adretter als der Rest von Kaileys Freunden.
»Danke«, erwidere ich und geselle mich zu ihnen auf den bequemen Teppich. Die Wände sind mit Graffiti und einer wirbelnden Collage bedeckt. Ich meine, Kaileys Stil in einigen der Bilder zu erkennen: ein Mädchen, das unter einem Baum liegt, ein lilafarbenes Fahrrad, ein Reh mit Blumen und Bändern im Geweih.
Piper Lindstrom und Madison Cortez sind auch hier, und ich gratuliere mir zu meiner erfolgreichen Facebook-Recherche. Beide haben hautenge zerrissene Jeans und T-Shirts von Bands an, von denen ich noch nie gehört habe.
Nicole, die mich am Morgen im Biologieunterricht so kalt angesehen hat, erkenne ich auch sofort. Im Gegensatz zu den anderen isst sie nicht aus einer Pappschachtel vom China-Imbiss, sondern Salat aus einer Holzschüssel. Sie ist gekleidet wie ein Hippie mit Geld, mit bequemen, teuer aussehenden Lederschuhen und einem weichen grünen Top.
In unserer bunt zusammengewürfelten Familie hatten wir alle fest zugeteilte Rollen: Cyrus war der tyrannische Anführer, ich war seine unterwürfige Gefährtin, Jared war der Jasager und Vollstrecker von Cyrus, Amelia sein hingebungsvoller Sidekick. Sébastien bewegte sich hinter den Kulissen, und Charlotte übernahm die Rolle meiner besten Freundin. Ich frage mich, wo Kaileys Platz in dieser Gruppe war.
Piper hält mir einen Karton mit gebratenem Reis hin, aus dem ich ein paar Bissen nehme, bevor ich ihn weiterreiche.
Nicole wirft mir einen eisigen Blick zu. »Geht es dir besser? Du hast heute Morgen in Bio ganz schön neben dir gestanden.«
Madison blickt mit einem besorgten Ausdruck in ihren blauen Augen auf, den gebratenen Reis noch in der Hand. »Bist du immer noch krank?« Sie stellt den Karton behutsam ab.
»Nein, aber danke der Nachfrage, Nicole.« Mein Ton ist neutral, aber ich merke, dass ich mich vor ihr in Acht nehmen muss.
Ein silbernes Bettelarmband an Nicoles Handgelenk erregt meine Aufmerksamkeit. Ein prüfender Rundblick, und ich erkenne, dass Piper und Madison dieselben Armbänder tragen, während Leyla sich nur ein dünnes rotes Lederband um das Handgelenk
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