Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
niemals hätte er den Raum so eingerichtet.
Dennoch spüre ich seine Präsenz. Unter dem staubigen Geruch, der von den Polyestervorhängen ausgeht, kann ich die Seife riechen, die er benutzt: Vetiver und Zeder. Fast beginne ich, an Geister zu glauben, die Geister der Lebenden, als ich ihn mir hier vorstelle, wie er Abend für Abend in dieses Zimmer zurückkehrt, angetrieben von seinem Wunsch nach Rache.
Draußen ertönt ein Geräusch, das wie ein Pistolenschuss klingt, und instinktiv lasse ich mich auf die Knie fallen. Doch es war nur die Fehlzündung eines Autos. In der darauffolgenden unheimlichen Stille sehne ich mich nach der Normalität der Verkehrsgeräusche. Aber ich bin in ihr gefangen, in ihrem dichten, wolligen Netz, und kann gerade noch das Trommeln des Regens auf dem Dach hören. Als ich mich umdrehe, folgt die Stille mir, kriecht meine Arme hinauf wie ein lebendiges Wesen.
Vor mir erstreckt sich eine Wand voller Blätter, die jemand hastig in den Putz gepinnt hat. In dem Zwielicht trete ich näher heran, und meine Knie werden zu Gummi, als ich erkenne, was ich da vor mir habe.
Es ist eine Collage aus Fehlern. Jener Fehler, die ich in der nebligen Nacht vor drei Wochen begangen habe.
Ich sehe zwei Strafzettel, die auf den 15. Oktober datiert sind, jene Nacht, in der ich davongelaufen bin, aus der Minna Street in San Francisco. Dort hatte ich mein Auto während der Party im Emerald City geparkt. Daneben einige aus der Entfernung aufgenommene Fotos von einem Mann, der mir vage bekannt vorkommt. Nach einem kurzen Moment des Überlegens erkenne ich in ihm den Mann, der mir das Auto verkauft hat. Außerdem hängt da noch ein Zeitungsausschnitt aus dem Polizeibericht, in dem der Autounfall erwähnt wird. Das Datum ist mit Leuchtstift markiert. Ich nehme einige E-Mail-Ausdrucke ab und setze mich mit wachsender Besorgnis auf das durchgelegene Bett.
Es handelt sich um die E-Mails, die ich dem Craigslist-Verkäufer geschrieben habe, von dem Account, den ich extra für diesen Zweck angelegt habe. Cyrus muss einen Hacker engagiert haben, um alle Aktivitäten nachzuverfolgen, die von unserer IP-Adresse ausgingen. Natürlich habe ich nicht daran gedacht, einen öffentlichen Computer statt unseres eigenen zu verwenden … Bei meinem ursprünglichen Plan hätte das auch keine Rolle gespielt. Schließlich wäre von mir nichts mehr übrig gewesen, was man hätte finden können. Ich kann nur vermuten, dass Cyrus herausbekommen hat, dass die Polizei nach dem Auto sucht, weil ich es als gestohlen gemeldet habe. Vielleicht hat er auch den Anruf vom Münztelefon vor der Berkeley High zurückverfolgen können.
Ich hänge die E-Mails zurück an die Wand und betrachte den Rest. Es hat nicht den Anschein, als wüsste er schon von Taryn oder dem Buch. Allerdings finde ich auch die Anfrage nach einer Krankenakte, die jedoch abgelehnt wurde. Der ärztlichen Schweigepflicht sei’s gedankt, denke ich. Zumindest hat Cyrus Kaileys Namen nicht herausbekommen. Aber alles hat einen Preis, und über kurz oder lang wird er an jemanden geraten, der bestechlich ist …
Ich entdecke einen weiteren Zeitungsausschnitt, der bereits leicht vergilbt ist. Eine Gruppenaufnahme mit vielen Mädchen, die ich nicht kenne. Kailey steht zwischen Nicole und Leyla, ein erschöpftes Lächeln auf dem Gesicht und auf der Brust eine Nummer. Die Bildunterschrift lautet: Jährlicher Brustkrebslauf der Berkeley High School. Alle halten die Hände in die Luft und tragen die gleichen silbernen Armbänder. Mir stellen sich sämtliche Haare im Nacken auf – das Foto jagt mir aus irgendeinem Grund Angst ein.
Ich setze mich wieder aufs Bett, versuche nachzudenken und bin auf einmal total erschöpft. Aus dem Augenwinkel sehe ich in dem düsteren Zimmer etwas aufblitzen und betrachte den Nachttisch näher. Darauf liegt eine Kopie vom Jahrbuch der Berkeley High. Halb darunter versteckt lugt etwas Glänzendes hervor. Etwas aus Silber.
Ein junges Mädchen, vielleicht sechzehn, mit zerzaustem blondem Haar und einem silbernen Armband am gebräunten Handgelenk.
Ich höre ein metallisches Knacken, als ich sie vom Fahrersitz hieve und auf die Straße lege, und ich kann nur hoffen, dass ich sie nicht noch mehr verletzt habe.
Cyrus, der auf meine Hände starrt.
Keiner trägt heutzutage mehr eine Armbanduhr. Du aber normalerweise schon, oder?
Ich nehme das Armband auf, das gleiche, wie es auch Kaileys Freundinnen tragen. Ein kleiner runder Anhänger ist daran
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