Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
dass ich nicht halluziniere, dass ich wirklich sehe, was ich zu sehen glaube. Und selbst dann habe ich noch Zweifel.
Ich schleiche langsam vorwärts, drehe mich aufmerksam nach allen Seiten um und versuche alles aufzunehmen. Es ist surreal, sicher eine durchgeknallte Fata Morgana, die ich selbst herbeifantasiert habe. Und doch, ganz egal, wie oft
ich auch blinzele, wie lange ich auch den Atem anhalte und hinstarre, bleibt das Bild hartnäckig gleich, bis mir nichts anderes mehr übrig bleibt, als die Tatsache zu akzeptieren, dass die Szene vor meinen Augen nicht nur real, sondern auch ein exaktes Ebenbild meines Traums ist.
Des Traums, den mir garantiert Riley geschickt hat.
Des Traums, den ich erst kürzlich wieder hatte.
Des Traums, den ich als rein symbolisch abqualifiziert hatte und über den ich noch geraume Zeit nachdenken, den ich analysieren und interpretieren wollte, bis ich ihn schließlich in handliche Stückchen aufgeteilt hätte, die wirklich etwas aussagen.
Kein einziges Mal hätte ich gedacht, dass ich ihn wörtlich nehmen soll.
Kein einziges Mal hätte ich gedacht, dass eine ganze Landschaft aus rechteckigen Blöcken – ein Irrgarten aus Glaskäfigen – tatsächlich existieren könnte.
Ich hole tief Luft, gehe vorsichtig ein paar Schritte darauf zu und schaue genauer hin. Vor mir sehe ich eine Masse gepeinigter Seelen, von denen ich genau weiß, wie sie sich fühlen, nachdem ich selbst dort gewesen bin.
Allein.
Isoliert.
Bar jeder Hoffnung.
Umgeben von Stille, einer unendlichen Dunkelheit, gezwungen, ihre schlimmsten Fehler, ihre tragischsten Irrtümer und Missgriffe ebenso immer wieder zu durchleben wie die falschen Entscheidungen und egoistischen Handlungen, mit denen sie andere verletzt haben – gezwungen, ihre ganz persönliche Hölle unablässig aufs Neue durchzumachen. Sie erleben den Schmerz, den sie anderen zugefügt haben, als wäre es ihr eigener – genau wie einst ich, als ich an ihrer
Stelle war. Sie haben keine Ahnung, dass es Schicksalsgenossen gibt – dass sie sich zwar allein fühlen mögen, sie jedoch ironischerweise unter ihresgleichen gefangen sind. Sie alle sind einem Ansturm von Bildern und jahrelanger Reue ausgesetzt, ohne jemals abschalten oder den Ton in ihren Köpfen abdrehen zu können.
Und gerade als ich mich frage, was ich von hier aus tun soll, habe ich die Erinnerung an Lotos’ Stimme im Ohr.
Es gibt viele, die auf dich warten. Darauf warten, dass du sie erlöst, dass du mich erlöst.
Und ich weiß, das ist es, was sie gemeint hat. Ich muss hier beginnen.
Ich nähere mich dem ersten Block und beobachte hektische Energie bei einer gequälten Seele, die ich nicht erkenne. Allerdings besteht kein Zweifel daran, dass es eine der von Roman verursachten sein muss, da Damen außer mir lediglich die Waisenkinder verwandelt hat. Erneut staune ich darüber, wie viele Unsterbliche Roman gemacht hat, und muss daran denken, was er einmal Haven geantwortet hat, als sie die Frage gestellt hat: Das weiß nur ich allein, und der Rest der Welt muss es erst herausfinden. Ganz zu schweigen davon, wie viele versehentlich oder zufällig hier gelandet sein könnten.
Ich schließe die Augen, presse die Handflächen aufs Glas und warte auf irgendein Zeichen, weitere Erläuterungen, eine Anweisung, die sich bald enthüllen wird, nur um von einem Ansturm so massiver Verzweiflung getroffen zu werden, dass ich es kaum aushalte. Sogleich folgt darauf ein Hauch bitterer Kälte, die so intensiv ist, dass ich unwillkürlich zurückzucke. Ich schaue auf meine frierenden, von Frostbeulen gezeichneten Hände und weiß, dass es, solange ich hier bin, keine Aussicht auf Heilung gibt.
Weil ich der Sache unbedingt ein Ende machen will, und zwar sowohl meinetwegen als auch ihretwegen, trete ich so fest ich kann gegen die Scheibe, und als das nicht funktioniert, hämmere ich mit beiden Fäusten dagegen. Nachdem ich mich ebenso erfolglos auch noch mit dem ganzen Körper dagegengeworfen habe, grabe ich tief in meiner Tasche und ziehe den Kristall hervor, den mir Ava gegeben hat, das kleine Stückchen Cavansit, das die Intuition und die spirituellen Heilkräfte schärft, das Denkvermögen verbessert, neue Ideen inspiriert, einem hilft, falsche Überzeugungen abzulegen, und dazu beiträgt, Erinnerungen aus früheren Leben ans Licht zu holen, und ich hoffe, der Stein kann mir auch hier helfen. Als meine Hand aufleuchtet und die Handfläche heilt, als meine Haut diese strahlende,
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