Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
goldgesprenkelte violette Schattierung ausstrahlt, die mir schon zuvor aufgefallen ist, weiß ich genau, was ich tun muss.
Ich nehme die scharfe Kante, die gezackte, schmal zulaufende Spitze, und ziehe sie erst senkrecht und dann waagerecht über eine Seite der Glasscheibe, wobei ich unter dem hohen, schrillen Quietschen zusammenzucke, das klingt wie ein Fingernagel auf einer Schiefertafel, doch ich weiß, dass ich es geschafft habe, als das Gefängnis zusammenbricht, in tausend Scherben zerfällt und ein kühler Lufthauch an mir vorbeizieht, ehe die eingekerkerte Seele herauskommt.
Mein Herz hämmert heftig, als die Seele vor mir schwebt, sich aufrichtet und sich zu einem gemischten Sortiment von Charakteren entfaltet – das ganze Spektrum der Repräsentationen aus ihren früheren Leben, von denen ich jedoch keine erkenne. Sie stößt einen Schwall bunter Farben aus, dann fliegt sie davon, hoch in den Himmel hinein.
Ich schnappe nach Luft und bin erstaunt über das, was ich soeben mit angesehen, was ich gerade getan habe. Schließlich
gehe ich zum nächsten Glaskubus und wiederhole das Ganze und dann wieder und wieder und wieder. Ich lasse eine gefangene Seele nach der anderen frei und habe zwar keine Ahnung, wohin sie gehen, doch ich nehme an, dass es überall besser ist als hier.
Und dann, als ich gerade zur nächsten weitergehe, finde ich ihn.
Damen.
Aber es ist überhaupt nicht so, wie ich erwartet habe.
Statt ebenso gefangen zu sein, wie ich gefürchtet habe, spaziert er von Block zu Block.
Das Haar wild zerzaust, die Augen gequält und rot gerändert, bittet er mit reumütiger Stimme um Vergebung für alles, was er getan hat.
Bittet um Vergebung dafür, dass sie hier sind.
»Es ist nicht deine Schuld«, sage ich und gehe langsam auf ihn zu. »Du hattest nichts damit zu tun. Roman hat sie verwandelt. Du weißt ja, wie stolz er auf das Elixier war, wie gern er es großzügig ausgegeben oder zumindest mit denen geteilt hat, die er für würdig erachtet hat, während du es nur den Waisen und mir gegeben hast. Es sei denn …« Ich schlucke schwer und sehe ihn an, während mir ein völlig neuer Gedanke in den Sinn kommt, von dem ich hoffe, dass er reine Paranoia und absolut unzutreffend ist. »Es sei denn, es gab noch andere, von denen du mir nichts erzählt hast.« Geräuschvoll sauge ich den Atem ein.
Ich werde erst wieder entspannter, als er mich betrübt ansieht und mir eine Antwort gibt. »Sechs Waisen. Und du. Das ist die Gesamtsumme meiner persönlichen Hinterlassenschaft. Aber letztlich spielt es doch gar keine Rolle, wer ihnen das Elixier gegeben hat, es spielt keine Rolle, wer sie verwandelt hat, denn all das hier« – er macht eine weite
Armbewegung und zeigt dabei mit der Hand in alle Richtungen – , »all das, was du hier siehst, geht auf mich zurück. Ich war der Erste. Ich habe den Keim gelegt. Roman wäre nie so weit gekommen, wenn ich nicht gewesen wäre. Also, du siehst, Ever, es ist alles meine Schuld. Genau wie Lotos gesagt hat: Ich bin der Grund, und unsere Liebe ist das Symptom. Ich konnte dich nicht gehen lassen. Konnte nicht mit dem Schmerz umgehen, ein Leben ohne dich verbringen zu müssen. Und während du, meine süße Ever, meine liebste Adelina, sehr wohl die Heilung sein könntest, muss ich tun, was ich kann, um mein Karma aufzubessern und meine Fehltritte zu korrigieren. Welcher Ort könnte dazu wohl besser geeignet sein als dieser hier?«
Ich sinne kurz über seine Worte nach, während ich mir sorgfältig ein paar eigene überlege. »Nun ja«, sage ich mit ruhiger, gelassener Stimme, ohne je den Blick vom eleganten Schnitt seiner Gesichtszüge abzuwenden, »nach allem, was ich mitgekriegt habe, macht man es am besten wieder gut, indem man sie freilässt. Das ist so ziemlich alles, was wir momentan tun können.«
Ich zeige ihm den Kristall und demonstriere ihm, wie ich damit die Scheiben durchgeschnitten und die Seelen freigelassen habe. Dann bedeute ich ihm, mir zu folgen, woraufhin er die Hände auf die Scheiben legt und im Stillen um Vergebung fleht. Sein Fleisch wird erst rot und wirft Blasen, ehe es schwarz wird und fast mumifiziert wirkt, denn er lehnt den von mir angebotenen Kristall ab, der ihn heilen würde, da er lieber leidet, überzeugt davon, dass er es verdient hat, während er mir vom einen zum anderen folgt. Mehrfach wiederholen wir den Vorgang – Damen bezeugt seine Reue, während ich den Glaskäfig zertrümmere, damit eine weitere Seele entfliehen
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