Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
gekommen, damit du uns dorthin führst. Den Rest übernehmen dann wir.«
»Abgesehen davon, dass ich zuerst hier war.« Die Drohung in Rafes Stimme ist nicht zu überhören. »Eine Kleinigkeit, die ihr offenbar übersehen habt.«
Sie erstarren, straffen die Schultern und sichern ihre Stellung, als wollten sie die Sache gleich hier auf diesem streichholzdünnen Pfad ausfechten. Ihr Recht verteidigen, mich zu benutzen, um das zu kriegen, was sie wollen.
»Hört ihr euch eigentlich selbst reden?« Ich funkele sie an. »Mal im Ernst. Ihr seid echt unglaublich! Und ihr nennt Damen selbstsüchtig.« Ich schüttele den Kopf und versuche nicht einmal, meine Empörung zu verhehlen. Aber während sich meine Lippen bewegen und einen Schwall von ähnlichen Wörtern herausschleudern und meine Mimik sich
dem jeweils Gesagten anpasst, bin ich in Gedanken ganz woanders. Ich suche fieberhaft nach einem Weg aus diesem Schlamassel. Ich weiß, ich hätte Rafe überwältigen können, solange er noch allein war, doch jetzt, da drei Unsterbliche gegen mich allein stehen, bin ich mir nicht mehr sicher.
Obwohl sie mich nicht töten können, können sie mir dennoch massiven Schaden zufügen oder – schlimmer noch – mich daran hindern, als Erste ans Ziel zu kommen.
»Wir wissen nicht einmal sicher, ob es diese Frucht überhaupt gibt«, werfe ich ein. »Aber sagen wir einfach mal, es gibt sie, sagen wir mal, wir finden sie, und sie wartet nur darauf, gepflückt zu werden. Warum können wir sie dann nicht einfach teilen? Warum könnt ihr nicht jeder einmal davon abbeißen und dann mir den Rest überlassen, damit ich ihn Lotos bringen kann? Auf die Art hat jeder etwas davon. Und niemand wird verletzt.«
Doch statt der Ablehnung, die ich erwartet habe, stoße ich auf eisiges Schweigen.
Ein schreckliches, lastendes Schweigen, das weitaus schlimmer ist als jeder Streit, den sie vom Zaun brechen könnten.
Sie sind nicht mehr an mir interessiert.
Ihre Aufmerksamkeit wird von etwas völlig anderem gefesselt.
Und ich weiß, ohne hinzusehen, was es ist. Ich spüre es daran, wie der Wind an meinem Nacken flüstert. Ich sehe es am plötzlichen Leuchten in ihren Augen.
Sie sehen ihn.
Den Baum.
Was bedeutet, dass sie mich nicht mehr brauchen.
Und obwohl ich versuche loszulaufen, mein Bestes tue, um zu flüchten, ist es zu spät.
Sie sind zu viele und ich zu wenig. Und offenbar haben sie zumindest in diesem Fall beschlossen zusammenzuhalten. Zu kollaborieren.
Misa und Marco packen meine Arme, während Rafe hinter mich huscht. Seine Wange eng an meine gepresst, zischt er mir aus eisigen Lippen ins Ohr: »Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe, dass ich den Halt verloren habe und tief in den Canyon gestürzt bin?«
Ich schlucke schwer und wappne mich, denn ich weiß nur zu gut, was als Nächstes kommt.
»Das war leider gelogen.« Er grinst, und ich spüre, wie sich seine Lippen kräuseln. »Wenn ich das Pech gehabt hätte zu fallen, hätte ich es nie wieder nach oben geschafft. Weißt du, Ever, es geht senkrecht nach unten. Und zwar total senkrecht, ohne irgendeinen Felsvorsprung – es gibt nichts, woran man sich festhalten und den Sturz abbremsen könnte. Aber das muss ich dich selbst sehen lassen. Man soll die Überraschung ja nicht dadurch verderben, dass man vorher schon alles verrät, nicht wahr?«
Ich wehre mich.
Ich trete um mich.
Ich kratze und beiße und schreie und trete und kämpfe mit all meiner unsterblichen Kraft.
Doch obwohl ich mich in der Genugtuung suhlen kann, allen dreien übel zugesetzt zu haben, genügt das nicht.
Ich kann sie nicht schlagen.
Ich bin ihnen nicht gewachsen.
Und im selben Moment, als Misa und Marco mich loslassen, versetzt mir Rafe einen Stoß.
Stößt mich hinab.
Lässt mich fallen.
Über die Kante und hinab in einen bodenlosen Abgrund.
EINUNDDREISSIG
G enau wie in einem Traum, wo man fällt und fällt und den Sturz nicht aufhalten kann, da es nichts zum Festhalten gibt und man jegliche Kontrolle über seinen Körper verloren hat – genau so ist es.
Abgesehen davon, dass mich sonst, wenn ich in einem solchen Traum stecke, mein Körper ruckartig aus dem Schlaf reißt, bevor größere Katastrophen eintreten können.
Doch diesmal bin ich bereits wach. Und soweit ich es beurteilen kann, geschieht die Katastrophe genau jetzt und wird immer schlimmer.
Meine Haare fliegen hoch über meinem Kopf, während ich wild mit den Beinen strampele und versuche, irgendwie abzubremsen, das Tempo zu
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