Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
dazu im Stande, das steht mal fest. Das wusste ich schon beim ersten Mal, als ich dich gesehen hab. Nimm es mir bitte nicht übel.«
»Nein, nein.« Rafes Gegenwart bereitet mir zunehmend Unbehagen. »Es stimmt, dass Roman nicht mehr unter uns weilt«, sage ich und bestätige damit das, was Rafe bereits weiß, lasse jedoch weder durchblicken, welch tiefes Bedauern
ich über diesen Verlust empfinde, noch erwähne ich, wer dafür verantwortlich sein könnte. Mit festerer Stimme füge ich hinzu: »Offenbar war er doch nicht so unsterblich. Aber das hast du dir wahrscheinlich schon gedacht, oder?«
Der Wind frischt auf und pfeift an uns vorbei, während es unangenehm kalt wird – und zwar dermaßen kalt, dass ich den Mut verliere. Ich kann nicht noch einen Winter ertragen, schon gar nicht in Gegenwart von Rafe.
Da ich nicht stehen bleiben will, um die Jacke aus dem Rucksack zu holen, reibe ich mir die Arme, um mich zu wärmen. Ich lausche aufgeschreckt, als ein zweiter Windstoß an uns vorüberfegt. Nur dass er diesmal, neben dem altbekannten Blätterrascheln und Steinekullern, von einem ganz anderen Geräusch begleitet wird, das entweder von einem Tier oder von einem Menschen stammen kann – ich kann es einfach nicht sicher sagen. Ich weiß nur, dass Rafe und ich nicht mehr die Einzigen hier sind.
Mein Haar wirbelt um mich herum, während ich darum ringe, die Strähnen mit den Händen einzufangen. Auf einmal registriere ich, dass der Nebel sich etwas lichtet und einen Blick auf einen schneebedeckten Berggipfel in der Ferne freigibt, zusammen mit den obersten Ästen eines offenkundig sehr hohen Baums – womöglich des Baums? –, bevor er sich wieder verdichtet und den Anblick auslöscht.
In der Hoffnung, dass Rafe nicht gesehen hat, was ich gesehen habe, versuche ich, seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, und sage: »Sag mal, was machst du eigentlich hier? Das kann doch kein Zufall sein. Was hast du vor? Steckst du mit Misa und Marco unter einer Decke? Oder bist du vielleicht sogar mit Lotos befreundet? Oder willst du mir ernsthaft einreden, dass du hier nur eine kleine Tageswanderung machst?«
Als er mir keine Antwort gibt, sondern eine Bewegung macht, die den Anschein hat, als wollte er auf mich losgehen, greife ich nach meiner Taschenlampe und leuchte ihm mitten ins Gesicht. Der Lichtstrahl durchschneidet den Nebel und zeigt mir alles, was ich sehen muss – und das ist nicht viel.
Wie all die anderen abtrünnigen Unsterblichen, die mir im Lauf des vergangenen Jahres begegnet sind, bleibt Rafe auch unter Druck erstaunlich gelassen. Sein Gesicht zeigt nicht das geringste Anzeichen dafür, dass ihn der grelle Lichtstrahl in irgendeiner Weise stören würde. Für jemanden, der gerade in Position gegangen ist, um mich besser attackieren zu können, wirkt er alles andere als schuldbewusst. Wenn überhaupt irgendwas, sieht er eher entschlossen aus.
Doch da ist noch etwas anderes.
Etwas Auffallendes, doch ich lasse es mir nicht anmerken.
Er sieht älter aus.
Viel älter.
Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er einfach nur ein weiterer superattraktiver, perfekter Unsterblicher.
Und obwohl er immer noch gut aussieht, weist er jetzt unübersehbare Zeichen von Alterung und Verfall auf. Die Jahre haben ihn in Form von ergrauendem Haar und zahlreichen Fältchen um die Augen eingeholt. Selbst seine Zähne wirken ein bisschen gelb, ganz anders als das, was ich insgeheim als das strahlende Unsterblichenweiß bezeichnet habe.
Und auf einmal weiß ich, warum er hier ist. »Sparen wir uns doch den Quatsch, ja?«, sagt er und ist mit ein paar raschen Schritten bei mir. »Keiner von uns beiden wandert zum Vergnügen hier herum. Du bist
auf Lotos’ Reise zum Baum des Lebens, in der Hoffnung darauf, eine Frucht zu ergattern, die er alle tausend Jahre einmal trägt.« Er funkelt mich an, und seine Stimme passt perfekt zu seinem stahlharten Blick. »Eine schöne, makellose Frucht, die wie eine Kreuzung aus einem Granatapfel und einem Pfirsich aussieht. Ein erstaunliches Gewächs, das dem Glücklichen, der es pflückt und verzehrt, Unsterblichkeit schenkt. Zufälligerweise sind die tausend Jahre gerade abgelaufen. Es ist Zeit für die Ernte. Und auch wenn ich mir sicher bin, dass du glaubst, eines Bissens würdig zu sein, muss ich dir leider sagen, dass es folgendermaßen ablaufen wird, Ever: Du führst mich zum Baum, und ich schnappe mir die Beute.«
Ich mustere ihn weiterhin, während ich den Strahl der
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