Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
gealtert wirken, leuchten ihre Auren munter und lebhaft und lassen sie regelrecht erstrahlen, während sie sich die Hände reichen und langsam vom Baum steigen. Sie beachten mich gar nicht, als sie unterwegs an mir vorüberkommen, doch das kümmert mich nicht mehr. Meine Aufmerksamkeit wird von etwas gefesselt, was sie in ihrer Engstirnigkeit gar nicht sehen – etwas, das alles verändert.
Es sind die Früchte.
Der schiere Überfluss an Früchten.
Offensichtlich ist der Baum des Lebens nicht auf eine einzige Frucht alle tausend Jahre beschränkt, wie die Legende behauptet. Für jede Frucht, die gepflückt wird, wächst eine neue nach.
Und auf einmal begreife ich, was mein Instinkt mir schon die ganze Zeit sagen will – auf einmal weiß ich, was Lotos gemeint hat, als sie gesagt hat, der Baum sei immertragend.
Auf einmal weiß ich, was es bedeutet, wenn es heißt, dass im Universum Überfülle herrscht und es alles für uns bereithält, was wir brauchen, und die einzigen Mankos die seien, die in unserem Kopf herrschen.
Ich kämpfe mich weiter nach oben, bis zu der Stelle, wo die reife Frucht hängt. Dann zerre ich mir das blutverschmierte, zerrissene T-Shirt vom Leib, sodass ich nur noch das nicht minder blutverschmierte und zerfetzte weiße Trägertop darunter anhabe, lege mir das T-Shirt glatt auf den Bauch und pflücke das einsame Gewächs, bette es darauf und warte. Ich hoffe, ich irre mich nicht, ich hoffe, es ist wirklich so, wie ich denke, und grinse wie verrückt, als nur wenige Minuten später ein weiteres Stück Obst an derselben Stelle wächst, das ich ebenfalls pflücke. Das wiederhole ich mehrmals, bis mein T-Shirt so voll ist, dass ich keine weiteren Früchte mehr unterbringe. Dann falte ich es, binde die Zipfel über Eck zusammen und schwinge es mir wie einen provisorischen Rucksack über die Schulter.
Gerade will ich mir den Weg nach unten bahnen, als ich in die Ferne blicke und ein verblüffendes Schauspiel aus Licht vor mir sehe, das auf so faszinierende, farbenfrohe Art durch den Nebel bricht, dass es mich ganz sprachlos macht.
»Was ist das?«, flüstere ich und starre auf das Spektakel vor meinen Augen. Da ich so hoch oben bin, nehme ich an, dass ich Zeugin einer himmlischen Lightshow oder dergleichen werde.
Doch es dauert nicht lange, bis ich vage das Jubeln und Grölen höre, das der Wind herbeiträgt, Laute, die mir verraten, dass sie von Marco, Misa oder Rafe oder vielleicht von allen dreien zusammen stammen müssen. Und auf einmal begreife ich, warum Lotos sie mir hinterhergeschickt hat.
Sie wusste über den Baum Bescheid. Wusste, dass er immertragend ist. Wusste, dass ich – ganz egal, was die anderen tun, ganz egal, wie sehr sie sich auch bemühen mochten, mich aufzuhalten – letztlich ans Ziel kommen würde.
Sie mag sich ja nicht allzu offen über die Form der Unsterblichkeit geäußert haben, die die Frucht tatsächlich spendet, aber schließlich haben sie ihr nur gesagt, sie seien auf der Suche nach dem Elixier des Lebens, daher hatte Lotos zweifellos das Recht, sie hierherzuschicken.
Und auch wenn sie vielleicht nicht begriffen haben, worauf sie sich eingelassen haben, lässt sich aus ihren begeisterten Jubelrufen und Freudenschreien und aus der Art, wie ihr Glanz den Himmel aufleuchten lässt, schließen, dass das, was sie gefunden haben, sogar noch besser ist als das, was sie ursprünglich gesucht haben.
Sie haben die Erleuchtung gefunden – die wahre Unsterblichkeit.
Die von der Art, wie ich sie nun in Händen halte.
Begierig darauf, nun selbst an die Reihe zu kommen, klettere ich vom Baum und trete meinerseits den Rückweg an.
VIERUNDDREISSIG
A ls ich wieder in Laguna Beach ankomme, registriere ich als Erstes, dass ich heil bin.
In meiner Begeisterung muss ich wohl so schnell den Rückweg zurückgelegt und den Schleier manifestiert haben, dass mir gar nicht aufgefallen ist, dass mein Körper nicht mehr blutig und voller blauer Flecken ist und mir die Klamotten nicht mehr in Fetzen vom Leib hängen, obwohl sie ganz schön schmutzig sind.
Das Zweite, was mir auffällt, ist das Wetter.
Es ist heiß.
Richtig, richtig heiß.
Auf jeden Fall viel zu heiß für die dicken Socken und die Wanderstiefel, die ich immer noch anhabe.
Ich sehe mich auf den belebten Straßen der Innenstadt um, wo die Sonne so intensiv von den Schaufenstern gespiegelt wird, dass ich mir eine Hand vor die Augen halten muss, bis ich mir eine neue Sonnenbrille manifestieren kann. Zum einen
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