Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
einfach nicht richtig – die Auswirkungen hätten viel zu viele Leute verletzt. Und es ist ja nicht so, als ob die beiden sich irgendwie besser benommen hätten, seit sie Stacias Platz eingenommen haben. Im Grunde haben sie eher Stacias schlimmsten Untaten nachgeeifert.
Soweit ich im Bilde bin, haben sich Honor und Stacia sozusagen wieder versöhnt, aber nur weil ich sie mehr oder weniger dazu gezwungen habe. Und jetzt, nachdem ich wer weiß wie lange weg war, habe ich keine Ahnung, wie sich die Sache weiterentwickelt hat. Womöglich sind sie alle beide in ihren schrecklichen alten Trott zurückgefallen und pflegen erneut ihre schrecklichen alten Gewohnheiten. Trotzdem hoffe ich, dass ich mich irre. Ich hoffe, sie haben wenigstens versucht , etwas Produktiveres mit ihrem Leben anzufangen.
Die Kundin nimmt ihre Tüte und huscht direkt an mir vorbei zur Tür, während Honor die Rechnung verräumt. Sorgfältig legt sie sie in die violette Schachtel, in der Jude sie immer aufbewahrt, ehe sie sich auf dem Hocker niederlässt und mich anspricht.
»So, so.« Sie schüttelt den Kopf und mustert mich von Kopf bis Fuß. Während sie mich taxiert, verbirgt sie geschickt jeden Hinweis darauf, wie sie es empfinden mag, dass ich hier aufgetaucht bin. »Du warst so ziemlich der letzte Mensch, den ich hier erwartet hätte.«
»Ist Jude da?«, frage ich, da ich keine Lust habe, mich auf ihr Spielchen einzulassen. Es ist schwer zu sagen, was sie im Schilde führt. »Oder Ava?«, füge ich hinzu, um deutlich zu machen, dass ich mit jedem zu sprechen bereit bin außer mit ihr.
»Ava kommt bald«, sagt sie, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Jude auch.« Sie lächelt, ein unwillkürliches Hochziehen der Mundwinkel, das ebenso rasch wieder verschwindet.
Ich trete an den Tresen und begegne ihrem starren Blick mit einem ebensolchen meinerseits. Sie zieht die Schultern hoch, lehnt sich gegen die Wand und mustert mich weiterhin.
»Wie lange arbeitest du schon hier?«, beginne ich, statt die Frage zu stellen, die mir eigentlich auf den Nägeln brennt: Welchen Tag und welchen Monat haben wir? Ich weiß, dass man sie als Ersatz für mich eingestellt haben muss, und hoffe darauf, dass ihre Antwort mir einen Hinweis darauf geben wird, wie lange ich weg war.
»Etwa sechs Monate. Mehr oder weniger.« Sie zuckt mit den Achseln, schiebt sich eine Strähne kupferfarben getöntes Haar hinters Ohr und konzentriert sich dann auf den Zustand ihrer Fingernägel, während ihre Antwort in meinem Kopf einen Schwindelanfall auslöst.
Sechs Monate.
Sechs Monate?
Sechs Monate?
Der Raum beginnt mir vor den Augen zu verschwimmen, sodass ich mich am Tresen festhalten muss, um nicht umzufallen.
Sechs Monate – dann hätten wir jetzt Mai.
Damit wäre ich schon im letzten Teil meines Abschlussjahres angelangt.
Damit wäre ich in großer Gefahr, mit Pauken und Trompeten durchzufallen, falls ich nicht in den Unterlagen im Schulsekretariat massive Veränderungen manifestieren kann.
Sofort frage ich mich, ob das Gleiche für Damen gilt – ob er auch in Gefahr ist durchzufallen. Oder ob er es geschafft hat, rechtzeitig hierher zurückzukehren, während die Reise zum Baum des Lebens mich in den Abgrund gestürzt und gezwungen hat, mich durch unzählige Jahreszeiten zurückzukämpfen.
Andererseits hat sich Damen nie viel aus der Schule gemacht. Der einzige Grund, warum er sich angemeldet hat, ist auch der Grund, warum er hiergeblieben ist – meinetwegen. Nachdem er schon sechshundert Jahre gelebt hat, sieht er kaum einen Sinn in einem Schulabschluss. Und obwohl ich neulich einen ähnlichen Standpunkt vertreten habe – wie man aus meiner lückenhaften Anwesenheit im Unterricht vor meiner Abreise schließen kann –, ist es ja nicht so, dass ich absichtlich durchfallen will.
Schließlich habe ich nie davon geträumt, Schulabbrecherin zu werden.
Okay, sogar wenn ich mal geglaubt habe, ich bräuchte keine Bescheinigung meiner Studierfähigkeit, keinen guten Notendurchschnitt und keine Vorkurse fürs College, selbst wenn ich mir eingebildet habe, dass ich aufgrund meiner Unsterblichkeit keinen Bedarf an diesen Dingen hätte,
Highschool-Abschluss zu verzichten.
Bei der Abschlussfeier mein Barett in die Luft zu werfen, ist so ziemlich das einzig Normale, das ich wirklich unbedingt machen will.
Und jetzt habe ich die Chance darauf offenbar auch noch verspielt.
Seufzend schüttele ich den Kopf und versuche, mich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren,
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