Evermore - Das dunkle Feuer - Noël, A: Evermore - Das dunkle Feuer
schaut in die Ferne und findet ganz offensichtlich Gefallen an dieser Vorstellung.
»Also«, murmele ich und drücke die Lippen auf seinen Unterkiefer, während meine Finger mit dem Kragen seines Bademantels spielen. »Wann feiern wir eigentlich deinen Geburtstag? Und wie soll ich jemals das Geschenk toppen, das du mir gemacht hast?«
Er dreht den Kopf und seufzt. Die Sorte Seufzer, die von irgendwo ganz tief unten kommt, und ich meine damit nicht das körperliche Tief-Unten , sondern das emotionale. Es ist ein Seufzer voller Traurigkeit und Bedauern. Es ist der Klang der Melancholie.
»Ever, wegen meines Geburtstags brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich habe ihn nicht mehr gefeiert, seit …«
Seit er zehn geworden ist. Natürlich! Dieser grauenvolle Tag, der so schön angefangen hatte und damit endete, dass er zusehen musste, wie seine Eltern ermordet wurden. Wie konnte ich das vergessen?
»Damen, es tut mir …«
Ich setze zu einer Entschuldigung an, doch er winkt ab, kehrt mir den Rücken zu und geht zu dem Velázquez-Gemälde hinüber, das ihn auf dem sich aufbäumenden weißen Hengst mit der dichten, lockigen Mähne zeigt. Dort hantiert er an der Ecke des übergroßen, reich verzierten Goldrahmens herum, als müsse der dringend gerade gerückt werden, obwohl das eindeutig nicht der Fall ist.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagt er und will mich noch immer nicht ansehen. »Wirklich. Die Jahre
zu zählen kommt einem wohl nicht mehr ganz so wichtig vor, nachdem man so viele hinter sich hat.«
»Wird das bei mir auch so sein?« Ich tue mich schwer damit, einen Geburtstag nicht wichtig zu finden oder, noch schlimmer, zu vergessen, an welchem Tag er ist.
»Das werde ich nicht zulassen.« Er dreht sich um, und sein Gesicht hellt sich auf, als er mich betrachtet. »Jeder Tag wird eine Feier sein - von jetzt an. Das verspreche ich dir.«
Obgleich es ihm ernst ist, obgleich er es genau so meint, schüttele ich den Kopf. Denn die Wahrheit ist, so wild entschlossen ich auch bin, meine Energie zu befreien und mich nur noch auf die positiven Dinge zu konzentrieren, auf die ich aus bin, das Leben ist trotzdem noch das Leben. Es ist noch immer hart, kompliziert und ziemlich durcheinander, mit Lektionen, die gelernt, und Fehlern, die gemacht werden müssen, mit Triumphen und Enttäuschungen. Nicht jeder Tag ist dazu bestimmt, ein Fest zu sein. Und ich glaube, ich begreife endlich, akzeptiere endlich, dass das völlig in Ordnung ist. Ich meine, nach allem, was ich gesehen habe, hat sogar das Sommerland seine dunkle Seite, seine eigene Version eines Schattenselbst, eine kleine finstere Ecke mitten in all dem Licht - oder zumindest ist es mir so vorgekommen.
Ich sehe ihn an und weiß, dass ich ihm das sagen muss, und ich frage mich, warum ich es noch nicht erwähnt habe, als mein Handy klingelt. Wir sehen einander an und rufen: »Raten!« Ein Spiel, das wir manchmal spielen, um zu sehen, wessen hellseherische Fähigkeiten größer und schneller sind; wir haben nur eine Sekunde, um zu antworten.
»Sabine!« Logischerweise nehme ich an, dass sie aufgewacht ist, mein Bett leer vorgefunden hat und sich jetzt ganz
ruhig daranmacht herauszufinden, ob ich entführt worden bin oder das Haus aus freien Stücken verlassen habe.
Doch weniger als den Bruchteil einer Sekunde später sagt Damen: »Miles.« Aber seine Stimme klingt nicht im Mindesten spielerisch, und sein Blick verfinstert sich besorgt.
Ich ziehe das Handy aus der Tasche, und tatsächlich, da ist das Foto, das ich von Miles gemacht habe, auf dem er in voller Tracy-Turnblad-Montur posiert und mich anstrahlt.
»Hey, Miles«, melde ich mich und bekomme eine geballte Ladung Rauschen, Summen und statisches Knistern zu hören, der übliche Soundtrack eines Überseetelefonats.
»Habe ich dich geweckt?«, fragt er, und seine Stimme klingt klein und weit weg. »Wenn ja, also, sei froh, dass du nicht in meiner Haut steckst. Meine innere Uhr ist schon seit Tagen völlig durcheinander. Ich schlafe, wenn ich eigentlich essen sollte, und esse, wenn ich … Na ja, streichen wir das, denn hier in Italien ist das Essen klasse. Ich esse so ziemlich andauernd. Ehrlich, ich weiß echt nicht, wie die Leute hier das anstellen und trotzdem so rattenscharf aussehen. Das ist echt nicht fair. Ein paar Tage dolce vita, und ich bin ein pummeliges, aufgedunsenes Etwas - und trotzdem finde ich’s toll. Ich mein’s absolut ernst, hier ist es wirklich super! Na,
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