Evermore - Das dunkle Feuer - Noël, A: Evermore - Das dunkle Feuer
jedenfalls, wie spät ist es eigentlich bei euch?«
Ich schaue mich im Zimmer um, kann aber keine Uhr entdecken, also zucke ich bloß die Achseln und antworte: »Äh, früh. Und bei dir?«
»Ich habe keine Ahnung, aber wahrscheinlich Nachmittag. Gestern Abend war ich in diesem voll abgefahrenen Club - weißt du eigentlich, dass man nicht einundzwanzig sein muss, um hier in einen Club zu gehen oder was zu trinken? Ich sag’s dir, Ever, das ist das einzig Wahre! Die Italiener verstehen es echt zu leben! Aber, egal, das hebe ich
mir alles für später auf, wenn ich zurückkomme. Ich werd’s dir sogar vorspielen und alles, ich verspreche es. Aber jetzt kriegt mein Dad bestimmt sowieso schon’nen Herzinfarkt, weil dieses Gespräch so teuer ist, also komm ich mal einfach zur Sache. Du musst Damen sagen, dass ich in dem Laden war, von dem Roman mir erzählt hat, und … Hallo? Hörst du mich? Bist du noch da?«
»Äh, ja, ich bin noch da. Du bist ein bisschen zerhackt, aber, okay, jetzt geht’s wieder.« Ich wende Damen den Rücken zu und mache ein paar Schritte von ihm weg, hauptsächlich, weil ich nicht will, dass er die schreckliche Maske der Angst sieht, die sich auf meinem Gesicht zeigt.
»Okay, also, jedenfalls war ich in dem Schuppen, von dem Roman die ganze Zeit gequatscht hat, ich bin sogar gerade eben erst da weg und, also ich muss dir sagen, Ever, die haben da ein paar echt abgedrehte Sachen. Und ich meine wirklich voll abgedreht. Also, da hat jemand wirklich’ne Menge zu erklären, wenn ich nach Hause komme.«
» Inwiefern abgedreht?«, frage ich und fühle Damens Gegenwart jetzt direkt hinter mir, wie seine Energie sich von entspannt zu hellwach verschiebt.
»Einfach abgedreht. Mehr sage ich nicht darüber … Mist … Hörst du mich? Du bist schon wieder weg. Hör zu, mach einfach … Jedenfalls, ich habe dir ein paar Fotos gemailt, also, was immer du tust, lösch die ja nicht, ohne sie dir vorher anzuschauen. Okay? Ever? Ever! Dieses dämliche … verdammte Han…«
Ich schlucke heftig und schalte das Handy aus. Dann fühle ich Damens Hand auf meinem Arm. »Was wollte er?«
»Er hat mir Fotos geschickt«, antworte ich mit leiser Stimme und wende den Blick nicht von seinen Augen ab. »Irgendwas, was wir unbedingt sehen sollen.«
Damen nickt und arrangiert seine Gesichtszüge zu einem Ausdruck entschlossenen Einverständnisses, als wäre der Augenblick gekommen, auf den er gewartet hat, und jetzt warte er nur noch auf den Fallout, darauf, wie ich reagiere, wie viel Schaden angerichtet worden ist.
Ich klicke zur Homepage und von dort auf den Maileingang; dann warte ich, während der kleine Verbindungskreisel sich weiter und weiter dreht, bis Miles’ Nachricht angezeigt wird. Und dann, als sie auftaucht, halte ich den Atem an und klicke darauf … und warte … und überlege … und bin mir bewusst, dass meine Knie ganz wackelig werden, sobald ich es sehe.
Das Bild.
Oder vielmehr das Bild von dem Gemälde. Die Fotografie war damals noch lange nicht erfunden, und das würde auch noch etliche hundert Jahre dauern. Aber trotzdem, da ist es, genau vor meiner Nase, und es ist unverkennbar, dass er das ist. Dass sie das sind. Zusammen Modell stehen.
»Wie schlimm ist es?«, fragt Damen, und sein Körper ist vollkommen still, während er mich mustert. »So schlimm, wie ich erwartet habe?«
Ich sehe ihn an, aber nur ganz kurz, ehe ich wieder auf das Display schaue, den Blick nicht davon losreißen will. »Kommt drauf an, was du erwartet hast«, erwidere ich halblaut und denke daran, wie ich mich damals im Sommerland gefühlt habe, als ich heimlich seine Vergangenheit ausgeforscht habe. Wie schlecht mir war, wie total eifersüchtig ich war, als ich zu dem Teil kam, wo er sich mit Drina zusammengetan hat. Aber das hier - das ist überhaupt nicht so. Nicht im Geringsten. Oh, sicher, Drina sieht umwerfend aus - Drina hat immer umwerfend ausgesehen, selbst in ihren hässlichsten und gemeinsten Momenten war
sie atemberaubend, jedenfalls zumindest äußerlich. Und bestimmt spielt es überhaupt keine Rolle, in welcher Dekade sie sich gerade befand, ob nun in der Zeit der Turnüre oder in der des Tellerrocks; ich bin sicher, sie hat auch darin toll ausgesehen. Doch Tatsache ist, dass Drina weg ist, so weg, dass der Gedanke an sie, ihr Anblick, mich eigentlich nicht mehr besonders stört. Es macht mir sogar überhaupt nichts mehr aus.
Was mir zu schaffen macht, ist Damen. Wie er dasteht, wie er den
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