Evermore - Das dunkle Feuer - Noël, A: Evermore - Das dunkle Feuer
weil ich weiß, wie unwohl sich die Leute immer fühlen, wenn sie das hören, das Ungeheuer ist nicht irgendein fremdes Wesen, das den Weg in dein Inneres gefunden hat. Es ist keine dämonische Besessenheit oder so etwas - du bist das Ungeheuer. Das Ungeheuer ist deine dunkle Seite.«
Ich kippe meinen Stuhl nach hinten und schüttele den Kopf. »Na toll, das ist ja voll super. Du sagst also, ich bin wirklich so scharf auf Roman? Klasse, Ava, vielen Dank auch.« Ich seufze vernehmlich und beehre sie obendrein noch mit einem dramatischen Augenverdrehen.
»Ich hab’s ja gesagt, das kommt nie besonders gut an.« Sie zuckt die Achseln und beweist damit, dass sie inzwischen mehr oder weniger immun gegen meine pampigen Reaktionen ist. »Aber du musst zugeben, zumindest oberflächlich betrachtet sieht er wirklich toll aus, echt umwerfend.« Sie lächelt und bittet mich geradezu, ihr zu widersprechen. Als das jedoch nicht passiert, zuckt sie lediglich abermals die Schultern und sagt: »Aber das meine ich gar nicht. Du weißt doch Bescheid über das Yin-Yang-Symbol, nicht wahr?«
Ich nicke. »Der äußere Kreis repräsentiert alles, während der schwarze und der weiße Teil für die beiden Energien
stehen, wegen denen alles geschieht.« Ich zucke meinerseits die Achseln. »Ach ja, und beide enthalten ein kleines Samenkorn des jeweils anderen …« Unbehaglich rutsche ich auf meinen Stuhl herum; ich ahne plötzlich, wo das hinführt und weiß nicht recht, ob ich bereit bin, da mitzumachen.
»Genau.« Ava nickt. »Und glaub mir, die Menschen sind nicht anders. Sagen wir zum Beispiel, es gibt da ein Mädchen, sie hat ein paar Fehler gemacht, und sie ist so unglücklich und hat das Gefühl, dass sie all die Liebe und die Unterstützung, die ihr angeboten wird, gar nicht verdient, ist sich so sicher, dass sie alles ganz allein machen muss, es auf ihre Weise wiedergutmachen muss, nach ihren Regeln. Und schließlich ist sie so besessen von ihrem Peiniger, dass sie sich am Ende von allen um sie herum löst, damit sie mehr Zeit hat, sich auf den Menschen zu konzentrieren, der ihr am meisten verhasst ist, und all ihre Energie auf ihn richtet, bis, na ja, offensichtlich rede ich von dir, und du weißt ja, wie es endet … Was ich sagen will, jeder von uns hat einen Schatten der Finsternis, jeder Einzelne ohne Ausnahme. Aber wenn du dich so massiv auf die dunkle Seite konzentrierst, na ja, dann sind wir wieder beim Gesetz der Anziehung. Gleich und Gleich gesellt sich gern … und daher auch die ungeheure Anziehungskraft, die Roman auf dich ausübt.«
»Einen Schatten der Finsternis?« Ich sehe sie an, so etwas Ähnliches habe ich schon einmal gehört, erst vor ein paar Stunden. »Du meinst wie … ein Schattenselbst?«
»Jetzt zitierst du also Jung?« Ava lacht.
Ich blinzele und habe keinen Schimmer, wer das ist.
»Dr. Carl Jung.« Wieder lacht Ava. »Der hat all das über das Schattenselbst geschrieben. Im Grunde genommen sagt er, das ist der Teil von uns, der unbewusst und unterdrückt
ist, der Teil, den zu verleugnen wir uns solche Mühe geben. Wo hast du denn das gehört?«
»Von Roman.« Ich schließe die Augen und schüttele den Kopf. »Er ist mir immer zehn Schritte voraus, und er hat im Großen und Ganzen genau dasselbe gesagt wie du, dass das Ungeheuer ich bin. Das war mehr oder weniger sein letzter Spruch, bevor ich abgehauen bin.«
Sie nickt, hebt den Finger und schließt die Augen. »Mal sehen, ob ich …«
Und ehe ich mich’s versehe, balanciert sie ein altes, ledergebundenes Buch in den Händen.
»Wie hast du …?« Mit weit aufgerissenen Augen und heruntergeklappter Kinnlade starre ich sie an.
Doch sie lächelt nur. »Alles, was man im Sommerland fertigbringt, kann man hier auch, weißt du? Warst du nicht diejenige, die mir das gesagt hat? Aber das war keine augenblickliche Manifestation, wie du denkst, das war bloß Telekinese - ich habe es aus meinem Bücherregal nebenan herbeigerufen.«
»Ja, aber trotzdem …« Ich starre das Buch mit offenem Mund an, verblüfft, wie schnell sie es herbeigerufen hat. Verblüfft darüber, wie schnell sie so viele Dinge gemeistert und trotzdem beschlossen hat, so zu leben - hübsch, behaglich, aber nach den üblichen, opulenten Orange-County-Maßstäben trotzdem ziemlich einfach. Mit zusammengekniffenen Augen betrachte ich sie abermals und sehe, dass sie immer noch den ungeschliffenen Zitrin an der schlichten Silberkette um den Hals trägt, anstelle des kunstvollen Gold-
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