Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
beugt sich zu mir und umfasst mein Gesicht mit beiden Händen, eine wunderbar weiche, beruhigende Berührung, und spricht mit leiser, tiefer Stimme weiter. »Wie wär’s mit heute Abend? Sollen wir uns an unseren Lieblingsort im Sommerland verziehen?«
Ich drücke hastig meine Lippen auf seine und weiche rasch wieder zurück. »Schön wär’s. Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich mir den Abend von allem frei halte. Du weißt schon, daheimbleiben, so tun, als würde ich etwas essen, so tun, als würde ich meine Hausaufgaben machen, und so tun, als wäre ich in jeder Hinsicht völlig normal,
damit Sabine sich ein bisschen entspannt, damit sie sich auf etwas anderes konzentrieren und ihr Leben weiterleben kann – damit ich auch endlich meines weiterleben kann.«
Er zögert, trotz meiner Ablehnung nach wie vor nicht überzeugt davon, dass er nichts für mich tun kann. »Und hättest du dann gern, dass ich vorbeikomme und so tue, als wäre ich dein völlig normaler Freund?« Er zieht die Brauen hoch. »Ich kann das ziemlich gut imitieren. Die Rolle habe ich schon x-mal gespielt, und inzwischen habe ich mehr als vierhundert Jahre Erfahrung damit.«
Lächelnd beuge ich mich zu ihm hinüber, um ihn erneut zu küssen, diesmal länger und inniger. Ich lehne mich an ihn, so lange ich kann, ehe ich mich von ihm löse und hektisch und atemlos zu sprechen beginne. »Glaub mir, nichts wäre mir lieber als das. Aber Sabine wäre es nicht recht. Deshalb halte ich es erst einmal für das Beste, wenn du dich eine Weile fernhältst. Zumindest bis sich die Wogen geglättet haben und alles wieder halbwegs in ruhigen Bahnen verläuft. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund macht sie nämlich dich für meinen Absturz verantwortlich.«
»Vielleicht weil ich es bin.« Er sieht mich an und fährt mit einem Finger über meine Wange. »Vielleicht ist sie etwas auf der Spur, ohne es zu ahnen. Ever, wenn du alles auf seinen eigentlichen Ursprung zurückführst, dann bin ich ja tatsächlich derjenige, der deine Verwandlung verursacht hat.«
Seufzend wende ich mich ab. Diese Debatte hatten wir schon mal, und ich bin noch immer nicht bereit, es so zu sehen wie er. »Du – das Nahtoderlebnis …« Ich hole tief Luft und sehe ihn an. »Wer kann das schon mit absoluter Gewissheit sagen? Außerdem spielt es ohnehin keine Rolle, es ist, wie es ist, und es gibt kein Zurück.«
Er runzelt die Stirn, eindeutig nicht willens, meinen Standpunkt zu übernehmen, jedoch bereit, die Sache fürs Erste auf sich beruhen zu lassen. »Okay«, sagt er, als spräche er mit sich selbst. »Dann schaue ich vielleicht bei Ava vorbei. Die Zwillinge hatten heute ihren ersten Schultag, und ich will unbedingt wissen, wie es gelaufen ist.«
Ich versuche mir vorzustellen, wie Romy und Rayne sich in der Junior-Highschool schlagen. Alles, was sie über das moderne amerikanische Teenagerleben wissen, haben sie entweder von meiner geisterhaften kleinen Schwester Riley gelernt oder aus Reality-Shows auf MTV – beides garantiert nicht die besten Quellen.
»Tja, dann hoffen wir mal für sie, dass bei ihnen nicht so viel los war wie bei uns.« Lächelnd steige ich aus dem Auto, schließe die Tür und lehne mich noch mal durch das offene Fenster. »Sag ihnen auf jeden Fall schöne Grüße von mir. Sogar Rayne. Oder vielleicht sollte ich sagen vor allem Rayne.« Ich lache, da ich weiß, wie wenig sie mich leiden kann, wobei ich hoffe, das eines Tages beheben zu können
– doch dieser Tag liegt noch in weiter Ferne.
Schließlich prescht er davon und lässt mich mit einem Lächeln zurück, das beständig bei mir bleibt und mich umhüllt wie eine Umarmung. Dann betrete ich den Laden und stelle erstaunt fest, dass er dunkel und leer und kein Mensch da ist.
Blinzelnd stehe ich da und warte einen Moment, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben und gehe erst dann nach hinten weiter. In der Tür zum Büro bleibe ich wie angewurzelt stehen, als ich ihn zusammengesunken und mit dem Kopf auf dem Schreibtisch dasitzen sehe.
Sowie ich ihn erblicke, denke ich: O Gott – ich bin zu spät gekommen!
Ich meine, nur weil Haven gesagt hat, sie würde mich fürs Erste verschonen, heißt das nicht, dass das Gleiche auch für Jude gilt.
Doch in dem Moment fange ich einen beruhigenden Schimmer seiner Aura auf und bin sofort erleichtert.
Nur Lebende haben Auren.
Tote und Unsterbliche nicht.
Aber als ich die Farbe sehe, den fleckigen, matten braungrauen Schleier um ihn
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