Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
würden.
Er sieht mich mit gespielt beleidigter Miene an. »Was? Warum so erstaunt? Etwa deshalb, weil du gedacht hast, jemand wie ich – jemand der schwul und Schauspieler ist
– würde die Gelegenheit sofort ergreifen?« Er schüttelt den Kopf. »Das ist Klischeedenken, Ever. Schäm dich.« Er wirft mir einen Blick tödlicher Verachtung zu, der mir ein so schlechtes Gewissen macht, dass ich mich gleich verteidigen will. Doch noch ehe ich dazu ansetzen kann, winkt er ab und lächelt triumphierend. »Ha! Und genau das nennt man schauspielern!« Er lacht, wobei sein ganzes Gesicht aufleuchtet und seine Augen schalkhaft blitzen. »Oder zumindest der allerletzte Teil war gespielt – der Teil mit dem Klischeedenken. Alles andere war absolut wahr. Siehst du, wie sehr ich mein Können verbessert habe?«
Er fährt sich mit den Fingern durchs Haar, stützt die Ellbogen auf den Tresen und beugt sich zu mir. »Es ist nämlich so – das Einzige, was ich will auf der Welt, der einzige Traum, den ich habe, ist Schauspieler zu werden.« Er sieht mich durchdringend an. »Ein richtiger, seinem Handwerk
der Bühnenkunst verpflichteter Mime. Das ist mein einziges Ziel. Meine einzige Sehnsucht. Ich will gar kein großer, unechter, aufgeblasener Filmstar sein. Ein wandelndes Fotomotiv. Ich bin nicht scharf auf die Partys, die Skandale oder die ständigen Aufenthalte in Entziehungskliniken – ich will es um der Kunst willen. Ich will Geschichten zum Leben erwecken, eine Vielzahl verschiedenster Figuren verkörpern. Ich kann dir gar nicht sagen, was für ein Gefühl es ist, wenn ich in einer Rolle aufgehe – es ist … es ist sagenhaft. Und es ist etwas, was ich immer wieder und wieder erleben will. Und ich will alle möglichen Rollen spielen – nicht nur die jungen und schönen Typen. Und um zu lernen, mich zu entwickeln und immer besser zu werden, muss ich das Leben kennen lernen. Ich muss es in vollen Zügen leben, in all seinen Phasen – Jugend, mittleres Alter, Greisenalter
– , ich will alles. Du kannst das Leben nicht spielen, wenn du dir versagst, es zu erleben.« Er hält einen Moment lang inne und studiert mein Gesicht. »Die Angst vor dem Tod, die ihr praktischerweise abgeschafft habt? Ich will sie. Mann, ich brauche sie. Sie ist eine der grundlegendsten, ursprünglichsten Triebkräfte, die wir haben – wie sollte ich auch nur auf die Idee kommen, mir das selbst zu rauben? Die Erfahrungen, die ich mir selbst gönne, werden allesamt meiner Kunst zugutekommen – aber nur, wenn ich sterblich bleibe. Nicht, wenn ich mich absichtlich zu einem in der Zeit festgefrorenen, ultra-glamourösen Schönling verwandele, der sich nie verändert, egal, wie viele Jahrhunderte verstreichen.«
Ich sehe ihm in die Augen und weiß nicht, ob ich erleichtert oder beleidigt sein soll, aber angesichts der Sachlage entscheide ich mich für erleichtert.
»Tut mir leid.« Er zuckt die Achseln. »Ehrlich, ist nicht
böse gemeint. Ich versuche nur, meine Sicht der Dinge zu erklären. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich gern esse. Ja, ich esse sogar so gern, dass ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, auf Dauer von Flüssignahrung zu leben. Außerdem mag ich die Veränderungen, die jedes Jahr, das verstreicht, mit sich bringt, die Eindrücke, die es hinterlässt. Und, ob du’s glaubst oder nicht, ich will auch nicht, dass meine Narben verschwinden. Sie gehören zu mir, zu meiner Geschichte. Und eines Tages, wenn ich das Glück habe, ein alter Mann zu werden, ein wahrscheinlich impotenter, seniler, dicker und glatzköpfiger Mann, während ihr alle gleich geblieben seid, tja, dann werde ich mich an meinen Erinnerungen erfreuen. Ich meine, vorausgesetzt, sie sind nicht alle verschwunden wegen Alzheimer oder so. Aber bevor du jetzt anfängst, dich zu verteidigen …« Er nimmt die Hand vom Ladentisch und hebt sie in die Höhe, da er spürt, dass ich drauf und dran bin, ihn zu unterbrechen. »Ehe du mir jetzt erzählst, dass Damen genug Erinnerungen für uns alle angehäuft hat und dass er sagenhaft vielseitig und zufrieden ist – hier ist das Eigentliche, worauf ich hinauswill: Was ich mir mehr als alles andere wünsche, ist, mit einem soliden Vorher-Nachher-Bild, auf das ich zurückblicken kann, am Ende meines Lebens anzukommen. Zeigen, dass ich im Rahmen meiner Möglichkeiten mein absolut Bestes getan und mein Leben gut gelebt habe.«
Ich starre ihn an, versuche, meine Stimme zu finden und irgendeine Antwort zu murmeln, doch ich
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