Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
sieht mich an.
»Hey.« Er nickt und mustert mich aufmerksam, während ich mir die Tasche über die Schulter hänge und das T-Shirt glatt streiche, das ich über meinem Tanktop trage. »Alles in Ordnung mit dir?« Er legt den Kopf schief, zwinkert mir zu und hat ganz offensichtlich keine Ahnung, warum ich ihn hierher zitiert habe.
Ich nicke lächelnd und denke mir, dass eigentlich eher ich ihn das fragen müsste. »Ja, alles bestens.« Ich bleibe direkt vor ihm stehen und bin unsicher, wie ich anfangen soll. Nur weil ich ihn gebeten habe, sich mit mir zu treffen, heißt das
nicht, dass ich mir die Mühe gemacht hätte, mir die lange Liste von Punkten einzuprägen, die besprochen werden müssen. »Ähm, und dir … geht’s dir auch gut?« Ich lasse den Blick über ihn schweifen und stelle fest, dass er besser aussieht als bei unserer letzten Begegnung. Sein Gesicht hat wieder Farbe bekommen, sein Blick ist bei Weitem nicht mehr so leer und traurig, und seine pulsierende grüne Aura verrät mir auf Anhieb, dass er definitiv auf dem Weg der Besserung ist.
Er nickt und wartet offensichtlich darauf, dass ich den nächsten Schritt tue und ihm verrate, worum es eigentlich geht. Doch als ich das nicht tue, sondern einfach nur vor ihm stehen bleibe, holt er tief Luft und sagt: »Ehrlich. Ich – ich gewöhne mich langsam daran, dass sie tot ist. Ich meine, ich kann es nicht ändern, also muss ich es wohl akzeptieren, oder?«
Ich murmele eine routinierte, einfallslose Zustimmung. Inzwischen ist mir klar, dass ich lange genug hinter dem Berg gehalten habe und es an der Zeit ist, zur Sache zu kommen, dem wahren Grund unseres Hierseins. »Und Haven?«, beginne ich. »Hast du sie in letzter Zeit gesehen oder etwas von ihr gehört?«
Er sieht weg und fährt sich mit der Hand durch die dünne Schicht Bartstoppeln, die sich an seinem Kinn gebildet hat, und antwortet mit müder, resignierter Stimme. »Nö, weder noch. Was vermutlich kein gutes Zeichen ist. Aber andererseits spielt sich die ganze Geschichte ohnehin außerhalb meiner Liga ab, also wer weiß?« Er sieht mich einen Moment lang an und lässt den Blick über mein Gesicht schweifen, ehe er sich wieder abwendet.
»Aber was, wenn ich dir sage, dass dem nicht so ist?« Ich halte lange genug inne, um wieder Blickkontakt zu ihm
aufzunehmen. »Was, wenn sich die ganze Geschichte gar nicht außerhalb deiner Liga abspielt?«
Er schnaubt und murmelt etwa völlig Unverständliches, ehe er den Kopf schüttelt und sagt: »Du machst Witze, oder?«
Ich sehe ihn weiterhin mit ernster Miene an. »Glaub mir, das ist kein Witz. Ja, eigentlich …«
Doch bevor ich auch nur zum Kern der Sache kommen kann, schneidet er mir das Wort ab, da er bereits seine eigenen Schlüsse gezogen hat, worum es geht, und mich daran hindern will, es auszusprechen. »Hör mal, Ever …« Er seufzt und scharrt mit einem Fuß, während er die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergräbt. »Ich weiß deine Sorge um meine Sicherheit durchaus zu schätzen, aber ich möchte klarstellen, dass ich unter keinen Umständen vorhabe, das Elixier zu trinken und unsterblich zu werden so wie du.«
Ich reiße die Augen auf und muss an mich halten, damit mir der Unterkiefer nicht herunterfällt. Nicht zu fassen, dass er ernsthaft gedacht hat, ich würde ihm das anbieten.
Damit sind es schon zwei in ebenso vielen Tagen, denke ich, außer Stande, mein Erstaunen zu verhehlen.
»Nachdem ich im Sommerland gewesen bin und Lina gesehen habe, tja, seitdem denke ich, dass man schon ziemlich wahnsinnig sein müsste, um hierbleiben zu wollen. Sich für einen extralangen Aufenthalt in einer so unvollkommenen, hasserfüllten Welt zu entscheiden, da es doch gleich um die Ecke etwas wesentlich Besseres gibt – wenn man so will.«
Und obwohl mich seine Worte treffen, ebenso sehr wie Miles’ Äußerungen, weine ich nicht. Das habe ich hinter mir. So oder so, ich bin, was ich bin, und es gibt kein Zurück.
Das heißt allerdings nicht, dass ich die Absicht hätte, alle anderen dazu zu überreden, sich zu mir zu gesellen.
»So schlimm ist es doch wohl nicht, oder?«, frage ich, um die Stimmung etwas aufzulockern.
Er antwortet mir mit ernster Stimme: »Nein, da hast du schon Recht. Es gibt nicht nur Hass und Mühsal da draußen. Wenn man Glück hat, stößt man gelegentlich auf eine kleine Oase der Freude.«
»Wow, das klingt aber ein bisschen düster, findest du nicht?« Ich ringe mir ein Lachen ab, obwohl mich seine Worte
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