Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
der Suche nach wenigstens einem vertrauten Gesicht in einer sehr großen Menschenmenge. Jude zufolge hatte Lina keinen Mangel an Freunden, und soweit ich sehe, stimmt das. Was er allerdings nicht erwähnt hat, ist, wie verschieden sie alle sind. Ich meine, so gern ich auch hier lebe, Laguna Beach ist nicht gerade bekannt dafür, ein Schmelztiegel zu sein, und trotzdem ist jede Ethnie hier vertreten, die man sich nur denken kann. Aus den zahlreichen Akzenten, die um mich herum ertönen, schließe ich, dass viele von weither gekommen sind, um sich von Lina zu verabschieden.
Ich bleibe weiterhin einfach stehen, lasse verlegen die Wasserflasche baumeln und überlege, wie ich Jude finden könnte, um ihm zu sagen, dass ich gehe, oder ob ich der Höflichkeit halber noch ein bisschen dableiben soll, als mir Ava von der anderen Seite des Zimmers zuwinkt. In Gedanken überschlage ich, wie lange es her ist, dass wir uns zum letzten Mal gesprochen haben, da kommt sie schon auf mich zu, und ich frage mich, ob sie auch zu den Leuten gehört, die sich von mir im Stich gelassen fühlen.
»Ever.« Sie lächelt und nimmt mich kurz und herzlich in die Arme. Ihre mit vielen Ringen geschmückten Finger umfassen immer noch meine Arme, ihre großen braunen
Augen blicken forschend in meine, ehe sie sich schließlich wieder losmacht. »Du siehst gut aus«, sagt sie und lacht ein leichtes, perlendes Lachen. »Aber das tust du ja immer, nicht wahr?«
Ich sehe auf das lange, violette Kleid herab, das ich extra für diese Gelegenheit entworfen und manifestiert habe, da Jude streng verboten hat, Schwarz zu tragen. Er hat behauptet, es wäre Lina ein Gräuel gewesen, eine Gruppe von Leuten zu sehen, die alle die gleiche deprimierende Farbe tragen. Sie wollte nicht, dass die Leute ihr Leben betrauerten, sondern sie sollten es stattdessen feiern. Und da Lila ihre Lieblingsfarbe war, wurden wir gebeten, in einer Schattierung davon zu erscheinen.
»Und, ist sie hier?«, frage ich, während Ava die Augen aufreißt und sich das wellige, kastanienbraune Haar hinter die Ohren steckt. Ihre gesamte Miene verändert sich, da sie das Schlimmste vermutet, nämlich dass ich Haven meine. »Lina«, sage ich, ehe sie sich total hineinsteigert. Haven ist das Letzte, worüber ich hier sprechen will. »Ich habe Lina gemeint. Hast du sie gesehen?« Ich betrachte den Anhänger aus Zitrin, den sie immer trägt, die bestickte violette Baumwolltunika, die enge weiße Jeans und die schicken goldenen Sandalen an ihren Füßen, ehe ich ihr wieder in die Augen schaue. »Du weißt, ich kann diejenigen nicht sehen, die übergetreten sind, ich kann nur die sehen, die noch dazwischen verweilen.«
»Versuchst du eigentlich je, mit ihnen zu sprechen, sie zu überreden, weiterzuziehen?« Sie schiebt den Riemen ihrer lila Umhängetasche ein Stück weiter die Schulter hinauf.
Ich sehe sie an, als wäre sie verrückt geworden, denn das wäre mir niemals eingefallen. Es hat mich so viel Zeit gekostet zu lernen, sie zu ignorieren, sie auszublenden, dass ich
nicht im Traum darauf käme, sie jetzt wieder herbeizuholen. Außerdem habe ich genug eigene Probleme, da hätte es mir gerade noch gefehlt, mich mit einem Haufen irregeleiteter Geister einzulassen.
Doch Ava lacht nur und lässt den Blick durch den Raum schweifen. »Glaub mir, Ever, sie finden alle den Weg zu ihren eigenen Trauerfeiern. Der Geist, der da widerstehen konnte, ist mir noch nicht begegnet! Die Gelegenheit zu sehen, wer erscheint, wer was sagt, wer was anhat und wer wirklich trauert, im Gegensatz zu denjenigen, die nur heucheln, ist enorm verführerisch.«
»Trauerst du wirklich?«, frage ich, wobei ich es gar nicht so meine, wie es klingt, als ob sie etwa heucheln würde oder so. Ich meine, ich bin in erster Linie hier, um Jude zu unterstützen und eine Frau zu ehren, die so nett war, mir zu einer Zeit beizustehen, als ich es wirklich nötig hatte. Doch obwohl ich weiß, dass Lina Avas Arbeitgeberin war, habe ich keine Ahnung, ob die Beziehung tiefer ging und sie richtig befreundet waren.
»Wenn du mich fragst, ob ich den Verlust einer freundlichen, großzügigen, mitfühlenden, wachen Seele betrauere«, sie sieht mich unverwandt an, »dann ist die Antwort Ja, natürlich, warum auch nicht? Aber wenn du fragst, ob ich mehr ihretwegen oder mehr meinetwegen trauere, dann lautet die Antwort leider Nein. Der größte Teil meiner Trauer ist rein egoistisch.«
»Genau das hat Jude auch gesagt«, murmele ich wehmütig,
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