Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
vielmehr Havens Haus, da sie ja laut Miles dort eingezogen ist.
Ich lasse mein Auto am Straßenrand stehen, weit genug entfernt, dass sie es nicht sehen kann, schleiche mich leise an und höre die Musik schon, ehe ich auch nur den Weg erreicht habe, der zu ihrer Haustür führt. Aus den Lautsprechern dröhnt ein Song von irgendeiner dieser Garagenrock-Bands,
die sie so liebt – Bands, die Roman gehasst hat und von denen ich noch nie gehört habe.
Ich pirsche mich langsam bis zum Wohnzimmerfenster vor, einem großen Panoramafenster mit Hecken draußen und einem leeren Fenstersitz drinnen. Neben den Büschen gehe ich in die Hocke, da ich weder eindringen noch entdeckt werden will, sondern weitaus mehr daran interessiert bin, zu beobachten und auszukundschaften, was sie im Schilde führt und wie sie ihre Freizeit verbringt. Je mehr ich über ihre Gewohnheiten weiß, desto besser kann ich ihnen meine Pläne anpassen. Und wenn ich schon nicht richtig planen kann, dann weiß ich wenigstens, wie ich im Fall des Falles reagieren muss.
Sie steht vor einem lodernden Feuer, mit offenen Haaren und ebenso theatralisch geschminkt wie letztes Mal, als ich sie gesehen habe. Allerdings hat das lange, fließende Abendkleid, das sie am ersten Schultag getragen hat, nun einem hautengen, nachtblauen Minikleid Platz gemacht, und sie hat die Stilettos, die sie mit Vorliebe trägt, gegen nackte Füße getauscht. Doch das Gewirr aus Halsketten hängt nach wie vor um ihren Hals, natürlich ohne das Amulett, und je länger ich sie beobachte, die Art, wie sie redet und wie sie durchs Zimmer flitzt, desto mulmiger wird mir.
Sie hat etwas so Manisches, so Erregtes, so Angespanntes an sich, dass es den Anschein hat, als könnte sie ihre eigene Energie kaum bändigen, sich selbst kaum unter Kontrolle halten.
Ohne je innezuhalten, hüpft sie von einem Fuß auf den anderen, trinkt immer wieder hastig aus ihrem Kelch, den sie nicht einmal eine Sekunde lang leer lässt, ehe sie ihn erneut mit Elixier aus Romans Vorräten auffüllt.
Genau das Elixier, von dem sie behauptet, dass es wesentlich
stärker sei als das von Damen zubereitete. Und wenn ich sie so ansehe und daran zurückdenke, was ich in der Schultoilette mit ihr erlebt habe, glaube ich das sofort.
Obwohl ihre Worte von der hämmernden Musik übertönt werden, weiß ich, was hier wirklich los ist.
Sie ist schlimmer drauf, als ich dachte.
Sie verliert allmählich die Kontrolle über sich selbst.
Auch wenn sie das Grüppchen ihrer hingerissenen Zuhörer beeinflussen und fasziniert bei der Stange halten kann, sodass sie sich einzig und allein auf sie konzentrieren, ist sie viel zu nervös, viel zu hektisch und viel zu wirr, um das alles noch lange aufrechtzuerhalten.
Sie greift erneut nach dem Kelch, wirft den Kopf in den Nacken und nimmt einen großen Schluck. Dann leckt sie sich die Lippen, um auch noch den letzten Tropfen zu erwischen, und ihre Augen glühen praktisch, als sie diese Abfolge noch einmal – und noch einmal – wiederholt: trinken und einschenken, einschenken und trinken, was mich vermuten lässt, dass sie süchtig ist.
Nachdem ich diesen finsteren Ort selbst schon einmal besucht habe, kenne ich die Anzeichen. Ich weiß genau, wie es aussieht.
Überraschen tut es mich allerdings nicht. Es ist ungefähr das, was ich von dem Moment an erwartet habe, als sie sich gegen mich gewandt hat und allein losgezogen ist. Was mich allerdings wundert, ist, dass ihr neuer Freundeskreis überwiegend aus all den Schülern der Bay View High besteht, die irgendwann einmal von Stacia, Craig oder einem anderen Mitglied der Elite gequält worden sind – während die Elite selbst, die Gruppe, mit der ich sie am ersten Schultag habe rumhängen sehen, durch Abwesenheit glänzt.
Ich beginne nur ganz allmählich durchzublicken, begreife erst mit Verzögerung, was sie im Schilde führt, als mich jemand anspricht.
»Ever?«
Ich wirbele herum und blicke in Honors Augen, die auf dem Weg zur Haustür stehen geblieben ist.
»Was machst du denn hier?« Sie sieht mich neugierig an.
Ich schaue zwischen ihr und dem Haus hin und her und begreife, dass mein Versteck neben den Sträuchern und mein Schreck darüber, erwischt worden zu sein, so ziemlich alles preisgibt, was ich verbergen will.
Das Schweigen zwischen uns zieht sich derart in die Länge, dass ich es gerade brechen will, als sie mir zuvorkommt. »In letzter Zeit hab ich dich gar nicht mehr in der Schule gesehen. Ich habe schon gedacht,
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