Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
blieb uns noch beinahe eine halbe Stunde vom Fahrunterricht, aber Mr. Yee erlaubte mir, zur Schule zurückzukehren, um mich zu waschen. Balthazar sagte: »Ich schlage vor, ich begleite sie. Es ist schon recht spät.«
Mr. Yee sah aus, als hätte er etwas dagegen einzuwenden, aber dann sagte er doch nichts. Es war keineswegs so, dass ich auf dem Schulgelände Schutz gebraucht hätte, aber Ranulf war mit dem Fahren dran, und Balthazar war schon ganz gut hinterm Steuer. »Sicher. Gehen Sie nur.«
Während das Auto hinter uns stotternd angelassen wurde, machten Balthazar und ich uns auf den Weg zurück zur Schule. Es war das erste Mal, seitdem er mich erwischt hatte, dass wir allein miteinander waren. Die Stille zwischen uns war bedrückend, und ich wollte nichts lieber, als sie mit meinem nervösen Geplapper zu füllen, aber ich hielt meine Zunge im Zaum.
»Eine Vampir-Amish-Kolonie also.« Sein schiefes Lächeln war nur ein Schatten seines alten Ichs. »Darauf kannst auch nur du kommen.«
»Du machst dich über mich lustig.«
»Über dich doch nicht. Über dich niemals.« Balthazar holte tief Luft. »Du hast doch niemandem etwas von Charity erzählt?«
»Nein, das habe ich dir doch versprochen.«
»Das war auch keine Frage. Wenn du etwas ausgeplaudert hättest, hätte Mrs. Bethany mich schon längst befragt.«
»Warum denn das? Und was meinst du mit befragt ?«
»Charity und Mrs. Bethany sind nicht gut miteinander ausgekommen.«
»Das hat Charity auch angedeutet.« Ich warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Wenn du deiner Schwester so nahestehst, warum habt ihr denn dann den Kontakt abgebrochen?«
»Wir haben uns schon vorher aus den Augen verloren. Es ist kompliziert.«
Er blieb stehen. Der Schmerz auf seinem Gesicht war schwer zu ertragen. Beschämt sah ich zu Boden. Wir standen auf dem gelblich werdenden Herbstgras. Balthazars Füße in den schweren Stiefeln waren beinahe doppelt so groß wie meine in den vom Schlamm verdreckten Halbschuhen.
»Sie hat es mir nie verziehen.«
»Was denn?«
Er öffnete den Mund, um mir zu antworten, überlegte es sich dann aber anders. »Das geht nur uns beide etwas an. Du musst lediglich wissen, dass sie mich braucht. Und das wird sich auch nie ändern. Bei Vampiren ändert sich nie etwas. Und es läuft immer so: Sie rennt weg, und alles geht den Bach runter, doch dann finde ich sie wieder, und alles kommt in Ordnung.«
Ich erinnerte mich an die ungewaschene Kleidung und ihren verschwitzten Körper und auch an ihre offensichtliche Einsamkeit. Charity sah wie jemand aus, um den sich unbedingt jemand kümmern musste. »Und wie lange geht das schon so?«
»Wir haben uns seit fünfunddreißig Jahren nicht mehr gesehen.« Fünfunddreißig Jahre , dachte ich und erinnerte mich an eine Unterhaltung, die wir vor beinahe einem Jahr, kurz vor Weihnachten, geführt hatten, während wir gemeinsam durch den Schnee spaziert waren. Das also war der Moment gewesen, in dem er seine Menschlichkeit tatsächlich eingebüßt hatte, begriff ich plötzlich. Charity zu verlieren hat ihn zum Aufgeben gebracht. »Aber am Ende kommt sie doch immer wieder nach Massachusetts zurück. Dort sind wir zusammen aufgewachsen. Es ist ein Zuhause für uns. Unser Heim. Und wenn sie jetzt zurückgekehrt ist, bedeutet das, dass sie Heimweh hat. Ich kann jetzt zu ihr durchdringen. Aber um sie zu erreichen«, fuhr er mit noch leiserer Stimme als zuvor fort, »muss ich sie erst mal finden.«
Mit einem Schlag wurde mir klar, was er vorschlagen wollte: »Du willst, dass ich dich zu ihr bringe. Du willst, dass ich das Schwarze Kreuz dazu benutze, herauszubekommen, wo sie steckt, damit du sie zuerst finden kannst.«
»Und damit du währenddessen das Schwarze Kreuz auf eine falsche Fährte locken kannst, falls du die Möglichkeit dazu hast.« Er spannte seine breiten Schultern an. Die Sonne ging langsam unter und tönte den Himmel hinter ihm orange. »Ich weiß, dass ich viel von dir verlange. Aber ich kann dir im Gegenzug eine Menge bieten.«
»Du meinst, du wirst niemandem von Lucas und mir berichten.«
»Dein Geheimnis ist bei mir ohnehin sicher.« Balthazar meinte, was er sagte, und als er weitersprach, klang seine Stimme, als würde er kapitulieren. Meine Erleichterung verwandelte sich in Erstaunen, als er sagte: »Wenn du mir mit Charity hilfst, dann verschaffe ich dir die Möglichkeit, das Schulgelände zu verlassen, damit du dich mit Lucas treffen kannst.«
»Ist das dein Ernst? Das würdest du
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