Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
nächstbesten Truhen öffnen, hielt dann aber kurz inne. Beim letzten Mal, als ich hier in diesem Zimmer gewesen war, hatten wir die Überreste eines toten Vampirs in einer dieser Truhen gefunden. Mrs. Bethany würde doch wohl nicht Erichs Kopf hier vergessen haben, damit er verrottete, oder?
Vorsichtig hob ich den Deckel einige Zentimeter und spähte hinein. Kein Totenkopf in Sicht. Erleichtert stieß ich die Luft aus, machte die Truhe ganz auf und griff auf gut Glück nach einigen Unterlagen. Ich würde eine Menge Material zu lesen haben, wenn ich herausfinden wollte, ob meine Theorie stimmte, und irgendwo musste ich schließlich anfangen.
Plötzlich sah ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung in einer Ecke der Truhe und entdeckte einen winzigen, schwarzen Schwanz: Eine Maus suchte nach einem Versteck.
Noch ehe ich darüber nachdenken konnte, beinahe ohne zu wissen, was ich tat, packte ich das winzige Tier und biss hinein.
Es quiekte einmal. Wenn es noch gezuckt hatte, hatte ich nichts davon mitbekommen. Alles, was ich wahrnahm, war das Blut, das meinen Mund füllte, richtiges Blut, lebendiges Blut, das auf meiner Zunge pulsierte. Es war, wie an einem strahlenden Sommertag in saftige Weintrauben zu beißen, nur heißer, süßer und sogar noch schmackhafter. Die letzten Herzschläge der Maus bebten auf meinen Lippen, als ich zwei Schlucke nahm, drei, und dann genug hatte.
Ich riss die Maus von meinem Mund, sah hinab auf den toten Körper und würgte.
Widerwärtig, oh, wie widerwärtig! Ich spuckte einige Male aus und versuchte, Fell und Milben oder Läuse von den Lippen abzuwischen. Den Kadaver der kleinen Maus schleuderte ich in eine Ecke. Immer wieder wischte ich mir den Mund mit dem Ärmel ab, konnte aber den Nachgeschmack von Blut nicht vergessen …
… und auch nicht, dass er wunderbar war.
Wenigstens ist dir das nicht in Gegenwart von Lucas passiert , dachte ich. Von jetzt an würde ich viel mehr Blut zu Mittag trinken. Notfalls auch mehrere Liter, falls mich nur das davon abhalten würde, so etwas noch einmal zu tun.
Mein Kontrollverlust machte mir so zu schaffen, dass ich am liebsten zurück in mein Zimmer gerannt wäre, um mich unter der Decke zu verstecken. Aber das tat ich nicht. Es war schwer genug gewesen, sich hier heraufzuschleichen, und ich würde jetzt nicht alles zunichtemachen. Ich tat also mein Bestes, einfach zu verdrängen, was gerade geschehen war, und stattdessen zu lesen: Maxine O’Connor aus Philadelphia …
Der Atem vor meinem Mund wurde mit einem Mal zu weißen Nebelwolken, die so dick waren, dass ich einen Augenblick lang kaum etwas sehen konnte.
Ich hatte nicht gedacht, dass es so eisig sein würde . Fröstelnd schlang ich die Arme um meinen Körper und spürte, wie die Kälte durch meinen Bademantel kroch. Das trockene, vergilbte Papier raschelte in meinen bebenden Fingern. Nein, ich wusste , dass es vor einigen Sekunden noch nicht derartig kalt gewesen war.
Raureif begann an den Wänden emporzukriechen.
Wie gebannt sah ich zu, wie sich die Eisblumen über das Gestein schoben und wie gespenstisch blaue Ranken wuchsen, sich tausendfach verwoben und wieder voneinander lösten. Das Muster wuchs vom Boden aus hoch, bedeckte die Wände und überzog sogar die Decke mit flockigem Weiß. Einige kleine, silberne Schneekristalle hingen in der Luft.
Ich war entsetzt, wie betäubt, und ich konnte nicht schreien, wegrennen oder überhaupt irgendetwas tun, außer zittern und versuchen zu glauben, was gerade geschah. Ich streckte meine Hände aus und merkte kaum, dass meine Finger rot und ungeschickt vor Kälte waren. Ich wollte die Schneekristalle in der Luft berühren, um mich selbst davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich vor mir schwebten.
Ich wünschte, Lucas wäre hier - Mom oder Balthazar oder irgendwer - einfach nur irgendjemand . O Gott, was geschah hier? Mein Atem kam stoßweise und viel zu rasch, und mir war beinahe schwindlig.
Trotz meiner Angst bemerkte ich sehr wohl, wie wunderschön diese Szene war, zart und ätherisch, als befände ich mich im Innern eines Kristallschlosses in der Mitte einer Schneekugel.
Das Eis knirschte so laut, dass ich zusammenfuhr. Vor meinen aufgerissenen Augen bahnte sich der Frost seinen Weg übers Fenster, versperrte die Sicht nach draußen und ließ den Wasserspeier und sogar den Mond verschwinden, aber trotzdem konnte ich aus irgendeinem Grund etwas sehen. Der Raum verfügte nun über eigenes Licht. Die vielen Eislinien auf dem
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