Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
wirklich tun?« Mir schwirrte der Kopf. »Aber wie soll das denn gehen?«
»Ganz leicht.« Sein Lächeln wirkte verkrampft. »Wir müssen nur eine einzige Lüge verbreiten. Wir erzählen, wir seien ein Paar.« Ein Paar? Oh . Aber ich wusste, dass das alles einen Sinn ergab, noch ehe Balthazar den Rest erklärt hatte. »Ältere Vampire können die Erlaubnis bekommen, in Evernight ungehindert ein und aus zu gehen, und Mrs. Bethany ist ziemlich freigiebig mit ihren Zusagen, wenn sie den Vampiren vertraut. Mir vertraut sie. Deine Eltern haben keinen Hehl daraus gemacht, dass sie es gerne sehen würden, wenn wir mehr Zeit miteinander verbringen würden. Und wenn alle annehmen, dass wir zusammen sind …«
Er starrte auf den Boden, und eine Sekunde lang waren seine Lippen fest aufeinandergepresst. Es war zu vermuten, dass ihn dieser Vorschlag große Überwindung gekostet hatte.
»… Ich könnte dann manchmal die Erlaubnis einholen, mit dir den Campus zu verlassen. Wenn deine Eltern nichts dagegen haben, wird auch Mrs. Bethany zustimmen. Sie werden es so auslegen, dass du endlich immer mehr eine richtige Vampirin wirst. Sie werden dich ermutigen. Und sie werden uns gehen lassen.«
Es war ein guter Plan. Hieb- und stichfest. »Du hast dir das schon vor einer Weile überlegt.«
»Ja, schon vor einigen Tagen. Wenn du Zeit brauchst, um über den Vorschlag nachzudenken, dann könnte ich das verstehen.«
»Ich habe nur eine Frage. Warum muss Charity ein Geheimnis bleiben? Ich meine, sie ist damals hier zur Schule gegangen, sodass Mrs. Bethany doch schon alles über sie weiß, oder?«
»Wie ich schon sagte, sind die beiden nicht gut miteinander ausgekommen, und das ist eigentlich eine Untertreibung. Wenn ich Charity hierherbringen würde, würde Mrs. Bethany ihr Zuflucht gewähren - sie muss jedem Vampir Zuflucht gewähren, der sie darum ersucht. Das ist das oberste Gebot hier. Aber Mrs. Bethany würde alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um sicherzustellen, dass ich sie gar nicht erst nach Evernight schaffe. Sie würde versuchen, sie einzuschüchtern oder vielleicht einen weiteren Keil zwischen uns zu treiben. Ich kann nicht noch einmal fünfunddreißig Jahre verlieren.«
»Ich verstehe.« Ich würde tun, was ich konnte, um Balthazar diesen Schmerz zu ersparen. Außerdem würde er es mir im Gegenzug ermöglichen, Lucas wiederzutreffen. Es gab kaum etwas, das ich dafür nicht getan hätte.
»Haben wir eine Abmachung?«, fragte er.
»Ja. Wann wollen wir damit anfangen?«
»Warum nicht gleich jetzt?« Balthazar streckte mir seine Hand entgegen.
Ich griff danach, und gemeinsam liefen wir zurück zur Schule. Auch als wir die Große Halle betraten, die die Schüler durchquerten, wenn sie von einem Unterricht in den nächsten eilten, ließen wir einander nicht los. Ich konnte spüren, wie ihre Blicke uns verfolgten, hungrig und begierig auf neuen Tratsch, wie sie sonst nach Blut lechzten. Am Fuße der Treppe zum Mädchenschlaftrakt beugte sich Balthazar vor und küsste meine Wange. Seine Lippen waren kühl auf meiner Haut.
Den ganzen Weg nach oben grübelte ich darüber nach, wie ich das Lucas erklären sollte. Ich gehe nicht mit Balthazar. Ich tue nur so. Was beinhaltet, dass wir nicht nur so tun, als würden wir Händchen halten. Und vielleicht auch nicht nur so tun, als küssten wir uns. Aber insgesamt tun wir nur so, das verstehst du doch, oder?
Ich stöhnte und bekam schon jetzt Kopfschmerzen von meinen eigenen schwachen Erklärungsversuchen.
9
In dieser Nacht beging ich meinen zweiten Einbruch.
Seitdem ich das erste Mal bei Mrs. Bethany eingestiegen war und hinterher mit leeren Händen dagestanden hatte, hatte ich vorgehabt, noch weiter herumzuschnüffeln. Aber Mrs. Bethany hatte keinerlei Reisen mehr unternommen, sodass sich keine weitere Gelegenheit ergeben hatte, ins Kutschhaus einzusteigen. Und wo sonst sollte ich nach Antworten suchen?
Es gab noch einen anderen denkbaren Ort, nämlich den Aktenraum im Nordturm, aber ich hatte ihn ursprünglich als Möglichkeit ausgeschlossen. Wenn Mrs. Bethany dort irgendetwas aufbewahren würde, was erklären könnte, warum sie auch menschliche Schüler in die Evernight-Akademie aufnahm, dann hätte Lucas es letztes Jahr mit Sicherheit entdeckt. Er hatte mehr als genug Zeit gehabt, danach zu suchen.
Aber als ich in dieser Nacht im Bett lag, nicht schlafen konnte und mich nach einem Schluck Blut sehnte, versuchte ich immer wieder, mir etwas einfallen zu lassen, wie
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