Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
ich Lucas meine Abmachung mit Balthazar erklären sollte. Im Geist ging ich verschiedene Versionen durch - in spaßigem Tonfall oder flirtend oder kurz und knapp oder um den heißen Brei herumredend -, und nicht einmal in meinen eigenen Ohren klang irgendetwas davon überzeugend. Ich wusste, dass Lucas am Ende würde einsehen müssen, dass es so sinnvoll war, aber ich wusste ebenfalls, dass er Zeit dafür brauchen würde.
Seufzend rollte ich mich auf den Rücken und klappte mein Kopfkissen über beide Ohren hoch beim Versuch, die hilflose Stimme in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Mein Magen knurrte, und mein Kiefer schmerzte. Ich wollte Blut. Verstohlen hatte ich um die Mittagszeit herum ein Glas hinuntergestürzt, und das sollte bei mir eigentlich einen ganzen Tag lang vorhalten - jedenfalls war es bislang so gewesen. Offenbar wurde mein Verlangen immer stärker.
Meine Gedanken drehten sich im Kreis, sodass an Schlafen gar nicht zu denken war. Während ich in meine Latschen schlüpfte und mir einen Bademantel überzog, warf ich einen raschen Blick auf Raquel, die ausgestreckt mit dem Gesicht nach unten auf ihrem Bett lag. Sie schlief tief - vielleicht sogar zu tief. Stirnrunzelnd erinnerte ich mich daran, dass ich ihr letztes Jahr geraten hatte, Schlaftabletten auszuprobieren. Ich hoffte, dass sie sie nicht noch immer schluckte, und nahm mir fest vor, sie später danach zu fragen.
Das Blut in meiner Thermosflasche war mal wieder lauwarm, aber ich war trotzdem froh über jeden Schluck. Ich trank, während ich durch das Treppenhaus des Südturms hinabstieg. Ich hatte kein Ziel im Sinn und lief nur herum, weil ich mich ein bisschen bewegen wollte. Als ich jedoch auf der Etage mit den Klassenräumen ankam, von der aus man auch zu den Jungenschlafräumen im Nordturm gelangen konnte, dachte ich wieder daran, wie ich damals Lucas in diesen Gängen getroffen hatte. Das war die einzige Zeit gewesen, in der ich mich in Evernight zu Hause gefühlt hatte.
Wenn ich doch nur etwas für Lucas herausfinden könnte! Alles wäre so viel einfacher, wenn ich ihm von dem Kompromiss, den ich um unsertwillen eingegangen war, erzählen könnte, nachdem ich das Geheimnis gelüftet hatte, das das Schwarze Kreuz so umtrieb. Das würde ihn in die Lage versetzen, Eduardo brühwarm von unserem Erfolg zu berichten, und ich liebte diese Vorstellung. Danach dürfte es nur noch ein Kinderspiel sein, Lucas die Sache mit Balthazar und mir zu beichten.
Ich ließ die Thermoskanne in die Tasche meines Bademantels gleiten und schlich mich in Richtung der Jungenschlafräume. Das frische Blut, das ich gerade getrunken hatte, durchströmte mich und schärfte mein Gehör, sodass ich die Schritte der Aufsicht hören konnte, eines Lehrers, der herumging, um dafür zu sorgen, dass keiner der Vampirschüler auf die Idee verfiel, einen menschlichen Schulkameraden in einen Mitternachtsimbiss zu verwandeln. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf das Geräusch, während ich darauf wartete, dass sich die Patrouille außer Hörweite bewegte und ich wieder freie Bahn hatte.
Leise öffnete ich die schwere Tür und trat ein. Kurz geriet ich in Versuchung, sie hinter mir zufallen zu lassen und loszustürmen, aber ich musste Geduld bewahren und die Tür leise ins Schloss gleiten lassen. Dann stieg ich die Treppe empor, und meine Ohren nahmen jedes auch noch so geringe Geräusch wahr: einen tropfenden Wasserhahn, ein Schnarchen, selbst das Klicken einer Schreibtischlampe.
Am Ende der Wendeltreppe befand sich der Aktenraum. Ich schob die Tür auf und duckte mich unter herabrieselnden Spinnweben und Staub. Der Gargoyle vor dem Fenster starrte mich misstrauisch an. Kisten und Truhen stapelten sich in allen Ecken, und viele von ihnen trugen Etiketten mit altmodischer Beschriftung und überkommenen Buchstaben, die niemand mehr so verwendete. In diesen Kisten befanden sich Angaben über zahllose Schüler, die Evernight besucht hatten, und die meisten von ihnen waren Vampire gewesen.
Denk nach. Das Schwarze Kreuz will herausfinden, warum es hier nun auch menschliche Schüler gibt, nicht, was die Vampire in Evernight wollen. Aber wenn du etwas über die Vampire erfährst, verrät dir das vielleicht auch etwas über die Menschen .
Mir kam eine Idee: Was, wenn es eine Verbindung zwischen den Menschen hier und den Vampiren gab? Was, wenn es sich bei ihnen um ihre Familienmitglieder oder sogar um ihre Nachfahren handelte?
Voller Energie wollte ich eine der
Weitere Kostenlose Bücher