Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
mit den Schultern. »Balty sieht nicht so aus, als hätte er gerade besonders viel Vergnügen. Scheint vielmehr so, als hätte er überhaupt an nichts mehr Freude. Als würde er einen Spaß nicht mal dann erkennen, wenn er um ihn herumspringen und ›Ich bin das wilde Leben‹ schreien würde.«
Ich brauchte einige Sekunden, bis mir eine Erwiderung einfiel: »Er sieht irgendwie traurig aus, oder?«
»Auf jeden Fall sieht er nicht gut aus, so viel ist sicher.« Vic strich sich den buschigen Schopf sandfarbener Haarsträhnen aus der Stirn, dann schnippte er mit den Fingern. »Hey, ich glaube, ich lade ihn zu meinem nächsten DVD-Abend ein. Wir machen ein Double Feature mit Matrix und Fight Club: beeindruckende Ledermäntel und das Übel der hegemonialen Herrschaftsstrukturen. Meinst du, das würde ihm gefallen?«
»Wem würde das nicht gefallen?« Ich beschloss, das Wort hegemonial im Lexikon nachzuschlagen. Früher hatte ich mal geglaubt, dass Vic nicht besonders helle war, aber ich war eines Besseren belehrt worden. Auch wenn ihm manchmal die Feinheiten entgingen, wusste er über die meisten Themen doch mehr als praktisch alle meine Freunde zusammen.
Balthazar war ein Freund für mich, und das machte es schwer, dabei zuzusehen, wie es ihm so offenkundig schlecht ging. Aber es wäre gelogen gewesen zu behaupten, dass der Hauptgrund für meine Unruhe die Sorge um ihn gewesen wäre. Dafür war ich zu selbstsüchtig. Jedes Mal, wenn ich ihn so verloren und angespannt sah, kam ich nicht gegen den Gedanken Er wird es jemandem sagen an.
Balthazars Begräbnisstimmung und sein Schweigen dauerten mehr als eine Woche bis zur ersten Fahrstunde.
Die Fahrausbildung in Evernight war in zwei Teile gegliedert. Es gab eine Einheit für die normalen menschlichen Schüler, bei denen man davon ausgehen konnte, dass sie recht vertraut mit modernen Automobilen waren und vermutlich zu Hause bereits mit den Wagen ihrer Eltern gefahren waren. Ein zweiter Ausbildungsabschnitt war den Vampiren vorbehalten, von denen einige seit dem Modell T regelmäßig gefahren waren, wohingegen andere noch nie hinter einem Steuer gesessen hatten. Die große Bandbreite an Erfahrungen wollte Mrs. Bethany wohlweislich vor den Blicken der menschlichen Schüler verbergen. Ich hätte mit Fug und Recht der menschlichen Sektion zugeordnet werden können, aber man steckte mich zu den Vampiren. Vermutlich war die Sorge meiner Eltern dafür verantwortlich, dass ich nicht genügend Umgang mit den »richtigen« Leuten pflegte.
»Ich verstehe einfach nicht, warum heutzutage jedes Auto einen Computer haben muss«, nörgelte Courtney, als sie ungeschickt den Blinker suchte. »Ernsthaft. Was soll das denn? Ich will mich doch nicht mit Mathe beschäftigen, während ich fahre.«
»Bitte konzentrieren Sie sich auf die Straße, Miss Briganti.« Mr. Yee seufzte tief, während er sich irgendwelche Notizen auf seinem Klemmbrett machte. Wir fuhren mit den schuleigenen Autos - unauffälligen, grauen Limousinen, die etliche Jahre alt waren - auf den Schotterwegen, die das Evernight-Gelände durchzogen. »Ich möchte Sie bitten, in der nächsten Runde ein wenig an Tempo zuzulegen.«
»Bei zu hoher Geschwindigkeit fährt man unsicher«, bemerkte Courtney, dann lächelte sie. »Sehen Sie, ich habe das Handbuch gelesen.«
»Das ist sehr beeindruckend, Miss Briganti, aber im Augenblick fahren Sie ungefähr zwanzig Stundenkilometer. Ich möchte sehen, ob Sie das Auto beherrschen, wenn Sie sich der üblichen Straßengeschwindigkeit annähern.«
Courtneys Hände verkrampften sich um das Steuer. Sie war außer Übung, und bei ihr hatte Nervosität die Tendenz, sich darin niederzuschlagen, dass sie hastig und viel zu scharf um Kurven fuhr. Unauffällig nestelte ich an meinem Gurt, um zu prüfen, ob er fest saß. Das war gar nicht so einfach, denn ich hockte auf der Rückbank, eingequetscht zwischen Ranulf auf der einen Seite und Balthazar auf der anderen. Ranulf studierte voller Interesse die Innenausstattung des Wagens, als hätte er noch nie in einem Auto gesessen, und Balthazar starrte mit trüber Miene aus dem Fenster.
Ranulf sagte: »Diese Automobile sind erst in den letzten hundert Jahren so beliebt geworden. Vielleicht bleibt das nicht so.«
»Du glaubst doch nicht, dass wir wieder auf Pferd und Wagen umsteigen, oder?« Courtney schnaubte und trat aufs Gaspedal, sodass das Auto einen Satz nach vorne machte. Mr. Yee suchte am Armaturenbrett Halt. »Träum weiter, Prinz
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