Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
mir gar keine Zeit mehr, traurig zu sein, weil ich Lucas nicht sehen konnte. Erst später, als wir wieder in den Bus stiegen, überwältigte mich die Enttäuschung. Balthazar warf mir einen fragenden Blick zu und wollte ganz offensichtlich wissen, ob er und Lucas eine Abmachung hätten, doch ich musste kurz mit den Schultern zucken und den Kopf schütteln. Er schien zu verstehen, dass das Treffen nicht stattgefunden hatte, aber wir hatten keine Gelegenheit, die Sache zu besprechen. Wir klammerten uns wieder aneinander, als der Bus an Geschwindigkeit zulegte und über den Fluss fuhr.
In dieser Nacht zur Schlafenszeit war Raquel fröhlicher, als ich sie das ganze Jahr über gesehen hatte. Dana schaffte es, so ziemlich jeden in gute Stimmung zu versetzen. Ich aber hatte das Gefühl, dass ein Teil von mir immer noch an diesem Fluss stand und auf Lucas wartete, der nicht kommen würde. Ich schloss fest die Augen und versuchte, mich zum Schlafen zu zwingen. Je eher dieser Tag vorbei war, umso eher konnte ich aufhören, darüber nachzugrübeln, wie gerne ich Lucas heute gesehen hätte. Ich könnte stattdessen anfangen, mir auszumalen, wie wir schon bald beieinander sein würden. So musste ich die Sache betrachten, oder ich würde es niemals durchstehen.
Aber selbst meine Träume hatten sich gegen mich verschworen.
»Du musst dich verstecken«, sagte Charity.
Wir standen im alten Gemeindehaus der Quäker, in dem ich vor einem Jahr zum ersten Mal das Schwarze Kreuz kennengelernt hatte. Die Kälte des geweihten Bodens kroch mir in die Knochen und ließ mich zittern. Charity klammerte sich an einen Türknauf, als ob sie sich nur mit Mühe aufrecht hielte.
»Wir müssen uns nicht verstecken«, sagte ich zu ihr. »Lucas wird uns nichts tun.«
»Du musst dich auch nicht vor Lucas verbergen.« Sie strich sich die weizenfarbenen Locken aus dem Gesicht. Auch wenn ihre Haarfarbe so anders als die von Balthazar war, konnte ich nun die Ähnlichkeit zwischen den beiden entdecken - die gewellten Haare, ihre Größe und die Intensität ihrer dunkelbraunen Augen. »Aber trotzdem musst du dich in Sicherheit bringen.«
Wovon sprach sie denn nur? Dann glaubte ich es plötzlich zu wissen. Das letzte Mal, als ich in diesem Gemeindehaus gewesen war, war es bis auf die Grundmauern abgebrannt. War das die Ursache für die seltsamen Schatten, von denen wir umgeben waren? War es Rauch? »Es brennt«, sagte ich.
»Nein. Aber es wird brennen.« Charity streckte eine Hand nach mir aus. Versuchte sie, mich zu retten oder in die Gefahr hineinzuziehen? »Lucas weiß nicht, dass du verbrennen wirst.«
»Er wird mich retten. Er wird mir zu Hilfe kommen.«
Sie schüttelte den Kopf, und hinter ihr konnte ich das Glühen einer Flamme sehen. »Das wird er nicht. Weil er es nicht kann.«
Als ich aufwachte, ging mein Atem schwer, und ich fühlte mich so einsam wie nie zuvor.
12
»Romeo und Julia kannten sich nicht sehr gut.« Die Worte klangen seltsam, auch wenn ich selbst diejenige gewesen war, die sie geschrieben hatte. »Sie haben ihre Eltern hintergangen, ihr Leben aufs Spiel gesetzt und sind am Ende füreinander gestorben, obwohl sie sich erst einige Male getroffen hatten. Es ist eine großartige Liebesgeschichte, die auf reiner Schwärmerei aufgebaut ist. Vielleicht hätte Shakespeare besser daran getan, die beiden einander länger kennen zu lassen.«
»Alles, was Sie sagen, ist wahr, Miss Olivier, aber ich bin nicht überzeugt, dass das eine Schwäche des Stückes ist.« Mrs. Bethany saß an ihrem Schreibtisch, trommelte mit den Fingern auf dem Holz, und ihre langen, gekerbten Fingernägel klackten so laut, dass ich sie hören musste. »Romeo und Julia sind praktisch Fremde, selbst am Ende des Stückes. Aber ist es nicht möglich, dass es Shakespeare eben darum ging? Dass diese Art von verrückter, selbstaufopfernder Leidenschaft, wie sie Romeo und Julia füreinander empfinden, zum ersten Rausch der Liebe gehört? Dass die Fehler der beiden von reiferen Leuten mit mehr Erfahrung nicht begangen werden sollten?«
Ich wurde an meinem Tisch immer kleiner. Glücklicherweise hatte Mrs. Bethany nicht vor, mich an diesem Tag zu ihrem persönlichen Prügelknaben zu machen. Sie schaute sich im Raum um. »Möchte sonst noch jemand vorstellen, welche Schwächen er im Stück ausfindig gemacht hat?«
Courtney hob die Hand, so begierig wie immer darauf, mich auszustechen. »Sie benehmen sich, als hätte es für sie nicht die Möglichkeit gegeben,
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