Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
Balthazar irgendwann am Abend. Seine breite Hand lag auf meinem nackten Rücken. »Hast du geübt?«
»Ich habe es in meinem Zimmer ausprobiert. Und mich damit abgefunden, dass mich Raquel ununterbrochen ausgelacht hat.«
»Das war’s wert.« Er beugte sich näher zu mir, sodass seine Lippen beinahe mein Ohr streiften, und flüsterte: »Und?«
Ich ließ den Blick durch die Ecken des Raumes schweifen; die meisten der Aufsichtspersonen waren verschwunden und patrouillierten zweifellos andernorts auf dem Schulgelände, wohin sich die meisten Pärchen davongeschlichen hatten, um ein bisschen für sich allein zu sein. »Jetzt.«
Wir bewegten uns an den Rand der Tanzfläche und schlenderten dann weg, während wir lachten und so taten, als ob wir nur eine kurze Pause brauchten. Als wir den Nordturm emporstiegen, kamen einige Jungs im Smoking an uns vorbei. Mir schien es, als ob sie mich sehr lange musterten. Als sie fort waren, sagte ich: »Glaubst du, dass sie etwas gewittert haben?«
»Weil sie dich so angestarrt haben? Ich denke eher, dass sie mich beneiden.« Balthazar seufzte. »Wenn die wüssten. Komm mit.«
Danach trafen wir niemanden mehr; wir ließen die Etage mit den Jungenschlafräumen hinter uns und gelangten immer höher. Im Stillen verfluchte ich das Klappern meiner hochhackigen Schuhe auf den Steinstufen, die sofort verrieten, dass hier ein Mädchen unterwegs war; aber trotzdem gelangten wir bis zur Tür des Aktenraumes. Ich zögerte kurz, dann klopfte ich. Lucas und ich dürften nicht die Einzigen gewesen sein, die herausgefunden hatten, dass dies ein tolles Versteck war, wenn man allein sein wollte. Das Letzte, was ich wollte, war, in ein Pärchen zu platzen, das gerade zugange war. Als niemand antwortete, sagte Balthazar: »Alles klar.«
Hastig traten wir ein. Unverkennbar war jemand hier gewesen, seitdem ich den Geist gesehen hatte: vermutlich Mrs. Bethany, die die Sache in Augenschein hatte nehmen wollen. Kisten und Truhen waren in alle Richtungen verschoben, und ich konnte mich nicht daran erinnern, dass der Raum vorher schon mal gründlich geputzt worden war. Die Fenster waren so blank, dass sie nicht mehr zu erkennen waren, und es sah aus, als wenn der Gargoyle vor dem Fenster jeden Augenblick hereinspringen könnte. Die Spinnweben waren aus allen Ecken verschwunden.
»Also, wonach suchen wir denn?«, fragte Balthazar.
»Nach irgendetwas, das erklärt, warum nun auch Menschen die Evernight-Akademie besuchen können. Lucas muss das wissen. Und wenn wir ihm darauf eine Antwort geben können, wenn wir ihm die Sache mit Charity und … alles andere erklären, dann wird das viel leichter. Und außerdem: Willst du das denn nicht auch wissen?«
»Ich war immer davon ausgegangen, dass es Mrs. Bethany um das Geld geht. Die Leute machen eine Menge des Geldes wegen.«
»Wenn sie das Geld haben wollte, hätte sie doch schon vor Jahren Menschen zulassen können. Wie du schon gesagt hast, hasst es Mrs. Bethany, die Regeln zu ändern. Warum ausgerechnet diese? Und wenn es ihr nur darum ginge, Bargeld für die Evernight-Akademie zusammenzubekommen, dann würde sie menschlichen Schülern kein Stipendium gewähren. Aber genau das tut sie. Raquel zum Beispiel hat ein Stipendium, und sie ist nicht die Einzige.«
Balthazar nickte und gab zu, dass ich in diesem Punkt recht hatte, aber er sah trotzdem nicht begeisterter aus, dass ich hier herumsuchen wollte. »Das letzte Mal, als du hier warst, hast du einen Geist aufgescheucht.«
»Wenn du lieber wieder runtergehen willst …«
»Ich lass dich doch nicht allein zurück«, sagte er so bestimmt, dass es mir peinlich war, auch nur im Scherz angedeutet zu haben, dass er Angst haben könnte.
»Ich habe jetzt dreimal Geister gesehen. An drei verschiedenen Orten - in der Großen Halle, im Treppenhaus und hier. Ich glaube also kaum, dass es etwas mit diesem besonderen Raum zu tun hat.«
Balthazar war ganz offenkundig nicht überzeugt, aber er fragte nur: »Also, wonach suchen wir?«
»Nach irgendwelchen Verbindungen zwischen Vampirschülern aus früheren Zeiten und den menschlichen Schülern heute.«
»Das schränkt die Angelegenheit kaum ein, Bianca.« Das war eine Untertreibung, denn trotz Mrs. Bethanys Putzaktion war der Raum noch immer vollgestopft mit Kisten voller Dokumente, die bis mehr als zweihundert Jahre zurückreichten. »Ich schätze, wir sollten besser anfangen.«
Wir öffneten einige Deckel und wühlten uns durch die vergilbten alten Seiten.
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