Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
Halle laufen, eine Kerze in der Hand und so wachsam, dass es beinahe übereifrig wirkte. Niemand wollte mehr in die Große Halle gehen, um dort zu lernen, herumzuhängen oder sonst irgendetwas zu tun. Die Plane, die das zerbrochene Fenster abdeckte, während man auf die bestellte, neue Scheibe wartete, war nicht die beste, und die winterkalte Luft zog an den Seiten hindurch, aber das war nicht der Grund, warum die Leute einen weiten Bogen drum herum machten.
Als das Wochenende näherrückte, war ich aus weit mehr Gründen bereit, der Schule eine Zeit lang zu entfliehen, als nur, weil ich Lucas wiedersehen wollte - obwohl das natürlich der wichtigste Grund blieb.
»Sehe ich nur passabel aus oder besser?« Ich drehte mich vor dem Spiegel hin und her und versuchte zu ignorieren, dass mein Spiegelbild etwas verschwommen wirkte. Ich war zu lange schon ohne Blut und würde etwas auf dem Weg in die Stadt trinken müssen.
»Zum neuntausendsten Mal: Du siehst toll aus«, sagte Raquel, ohne von ihrem neuesten Projekt aufzublicken. Sie hatte sich in ihre Kunst verkrochen, um sich vor ihren Ängsten zu verstecken. »Balthazar sieht dich jeden Tag, oder? Ist ja nicht so, als wüsste er nicht, wie du aussiehst.«
»Das ist mir auch klar.« Deshalb hatte ich mich auch recht normal gekleidet, mit Jeans und einem hellblauen Pullover mit Knopfleiste, aber natürlich war es in Wahrheit Lucas, den ich sehen würde.
Raquel legte ihre Schere und die Zeitschriften zur Seite. »Mrs. Bethany hat anscheinend ihre Lieblinge. Ich meine, ich freue mich für dich, dass du einen Abend lang rauskommst, aber ich wünschte, das wäre uns allen erlaubt.«
»Ich weiß, dass das nicht fair ist. Aber das werde ich gerade Mrs. Bethany gegenüber nicht unbedingt betonen. Außerdem weißt du doch ganz genau, dass ich nicht auf der Liste ihrer Favoriten stehe. Ich habe einfach nur Glück, dass Balthazar zu den Auserwählten gehört.«
»Balthazar ist verrückt nach dir; das fällt jedem hier auf.«
Ich tat so, als überprüfte ich mein Make-up im Spiegel, damit Raquel die Unsicherheit in meinen Augen nicht sehen konnte. »Er ist toll.«
»Das Wichtigste ist, dass du verliebt und glücklich bist.« Es war die romantischste Bemerkung, die ich je von Raquel gehört hatte, was zur Folge hatte, dass ich sie für einen Scherz gehalten hätte, wenn ihre Stimme nicht so ernst geklungen hätte. »Alles andere spielt keine Rolle. Jedenfalls nicht so richtig. Stimmt’s?«
Raquel kam damit der Wahrheit näher, als ihr bewusst war. »Stimmt.«
»Gut.« Wir lächelten einander an, und dann rollte Raquel mit den Augen. »Glaub bloß nicht, dass ich dich jetzt in den Arm nehmen werde oder so.«
»Na, Gott sei Dank.«
Sie warf mit einer zerknüllten Seite aus einer ihrer Zeitschriften nach mir, und ich duckte mich.
Balthazar hatte sich die graue Schullimousine ausgeborgt, damit wir nach Riverton fahren konnten. Wir hörten Musik im Radio, und während ich am Knopf drehte und meine Lieblingsgruppen suchte, wollte Balthazar lieber den Sender mit den Oldies hören.
»Man muss mit der Zeit gehen«, beharrte ich. »Ist das nicht der Hauptgrund, warum wir alle in Evernight sind?«
»Vielleicht bin ich wegen der netten Gesellschaft hier?«, sagte er mit einem Grinsen.
Unsere gute Laune hielt an, bis wir uns Riverton und damit der Brücke näherten, die über den Fluss führte. Balthazar fuhr an den Straßenrand und versuchte, sich zu beruhigen. »Ich hasse es«, sagte er. »Ich meine, ich hasse es wirklich.«
»Wie schaffst du es denn dann, nach Europa und in die Karibik und sonstwohin zu reisen? Wenn es schlimm ist, über einen Fluss zu gelangen, ist es denn dann nicht beinahe unmöglich, ein Meer zu überqueren?«
»Eigentlich sind größere Gewässer viel leichter zu bewältigen. Immer, wenn wir derartig überanstrengt sind, weil wir einen langen Flug über den Ozean vor uns haben oder auf geweihtem Boden festsitzen, dann fallen wir in eine Art Tiefschlaf, so als würden wir überwintern. Der Trancezustand beschützt uns. Man muss nur aufpassen, dass einen keine Menschen aufstöbern, während man ohnmächtig ist. Wir haben keinen Pulsschlag, und wir können auch nicht so einfach wieder aufwachen, was ganz leicht dazu führen kann, dass man für tot gehalten wird. Ich meine so richtig für tot. Wenn man erst mal in geweihtem Boden begraben ist, kann man alles vergessen.«
»Und erst, wenn man eingeäschert worden ist.«
»Ganz genau. Aber wenn man auf
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