Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
Ziele konzentrieren müssen, anstatt uns über Gebühr wegen der Geister zu sorgen.«
Das, was mein Vater gesagt hatte, hatte mich wieder an eine Frage erinnert, die mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen war, seitdem ich mich mit Balthazar über Geister unterhalten hatte. »Warum hassen Geister Vampire?«
Mom und Dad wechselten einen Blick und waren sich offensichtlich unschlüssig, wie viel sie verraten sollten, falls sie denn überhaupt etwas sagen würden. Mrs. Bethany faltete die Hände, und sie war diejenige, die antwortete. »Keiner von uns weiß genau, woher wir stammen, ob nun Vampire, Menschen oder Geister. Es gibt verschiedene Mythen und Sagen, und die Wissenschaft weiß so gut wie nichts über uns, die wir unser sterbliches Leben hinter uns gelassen haben. Aber es gibt Legenden, die ein Körnchen Wahrheit enthalten.«
»Legenden?«
»Einst gab es nur Menschen«, sagte Mrs. Bethany. »Vor langer, langer Zeit, ehe die Geschichtsschreibung begann, sogar ehe es ein nennenswertes menschliches Bewusstsein gab. Und deshalb war es auch eine Zeit, bevor es so etwas wie Moral gab oder Vorsatz oder Gefühl. Der Mensch lebte wie ein Tier, gesteuert von den Freuden des Fleisches, losgelöst von dem Wissen um eine Seele. Das, was die Menschen heute das Übernatürliche nennen - Vorahnungen, Gedankenlesen, Traumerlebnisse, Mächte, die über das körperlich Mögliche hinausgehen -, all das war damals ein Teil der natürlichen Welt und so schlicht und unbestritten wie die Schwerkraft. Aber der Mensch entwickelte sich. Das Bewusstsein erweiterte sich. Und mit dem Bewusstsein kam die Fähigkeit zu sündigen.«
Ich konnte Mrs. Bethany nur anstarren. Noch von keinem dieser Dinge hatte ich je etwas gehört, und dem plötzlichen Schweigen meiner Eltern nach zu urteilen, war es vielleicht auch für sie neu.
Mrs. Bethany fuhr fort, und dieses Mal lag in ihrer Stimme keine Spur von Kälte oder Verachtung. »Der Tag kam, an dem der erste Mensch einen anderen tötete. Vorsätzlich, geplant und sehr wohl im Bewusstsein, was es heißt, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Mit diesem Vorfall waren die Bande zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Welt zerrüttet. Obwohl jenes erste Opfer sein Leben aushauchte, war dies nicht das Ende seiner Existenz. Der übernatürliche Teil dieses ersten ermordeten Menschen teilte sich in zwei Hälften: in den Körper und in die Seele. Vampire sind die untoten Körper, Geister sind die untoten Seelen. Unsere Fähigkeiten unterscheiden sich voneinander. Unser Bewusstsein ist ein anderes. Und seitdem sind wir von den Geistern wie von der Menschheit getrennt.«
Mein Kopf schwirrte von all diesen neuen Informationen. »Und das alles stimmt so?«
»Ich kann es nicht beweisen, aber viele von uns glauben schon seit sehr langer Zeit daran«, sagte Mrs. Bethany. »Und ich selbst neige auch dazu, es für wahr zu halten.«
»Sie meinen - jedes Mal, wenn ein Vampir erschaffen wird, entsteht auch ein Geist?«
»Nein. Unser ›Stammbaum‹ hat sich seit diesem ersten Mord geteilt. Vampire sind in der Lage, mehr von unserer Art zu erschaffen. Geister hingegen … müssen einfallsreicher sein.«
Ein seltsames Lächeln spielte auf Mrs. Bethanys Gesicht. »Ja, sie können auch spontan neu hervorgebracht werden. Manche Art von Mord hat die Tendenz, Geister zu erschaffen, vor allem, wenn beim Verbrechen Verrat und gebrochene Versprechen eine Rolle gespielt haben. Es ist selten, aber es kommt vor.«
»Wenn Vampire und Geister nichts mehr miteinander zu tun haben, warum hassen Letztere uns dann so?«
Mrs. Bethany musterte mich eindringlich, ehe sie antwortete: »Die meisten Geister können nicht lange in einer körperlichen Gestalt überdauern. Es muss sie über kurz oder lang in den Wahnsinn treiben, die Welt zu beobachten, ohne wirklich an ihr teilhaben zu können. Stellen Sie sich vor, wie Sie sich fühlen würden, Miss Olivier, wenn Sie in dieser Weise gefangen und machtlos wären und dann sehen würden, wie andere untote Kreaturen noch immer in der Lage wären, zu fühlen, zu handeln und ihre Zeit auf Erden zu genießen. Denken Sie daran, wie viel näher wir dran sind, das Leben zu erfahren. Verstehen Sie es nun besser?«
»Ja, ich schätze schon.«
»Wenn Ihnen noch einmal etwas auffällt, müssen Sie es sofort melden. Adrian, Celia, danke, dass Sie sie sofort hergebracht haben.«
»Das war’s?«, fragte meine Mutter und schüttelte den Kopf. »Wir können nichts weiter tun, um sie
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