Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
Nacht geschehen wird. Ich bin jetzt schon seit fünfunddreißig Jahren ohne sie; ich denke, da werde ich es auch noch ein paar weitere Monate aushalten.«
»Bei dir klingt es so, als wärst du derjenige, der sie braucht, anstatt andersherum.«
Balthazar dachte kurz darüber nach. »Ich glaube, ich brauche einfach immer jemanden, um den ich mich kümmern kann.«
Wir näherten uns gefährlichem Gebiet. Rasch wechselte ich das Thema. Schon seit längerer Zeit hatte ich darüber nachgedacht, ob ich es mit ihm besprechen sollte oder lieber nicht. »Wenn ich ein Geheimnis mit dir teile, das mir jemand anderer anvertraut hat … etwas wirklich Persönliches, ganz Privates … weil ich ernsthaft glaube, dass du Hilfreiches dazu zu sagen haben könntest, würdest du mir dann versprechen, dass du es für dich behältst? Und niemals durchsickern lässt, dass du da etwas weißt?«
»Natürlich.« Er seufzte schwer. »Hat es mit Lucas zu tun?«
»Nein. Es geht um Raquel.« Und an diesem Weihnachtsabend berichtete ich Balthazar im Flüsterton, damit uns meine Eltern nicht zufällig belauschen konnten, was mir Raquel über den Geist erzählt hatte, der ihr seit so langer Zeit schon das Leben schwer machte.
Balthazar war nicht halb so entsetzt, wie ich es gewesen war. »Was hast du denn gedacht, was Geister machen, Bianca? Dachtest du, die sind süß und freundlich wie Caspar, der Geist, und seine Kumpel?« Dann runzelte er die Stirn. »Gibt es eigentlich noch Caspar-Comics?«
»Es gab einen Film«, sagte ich abwesend. »Aber das bedeutet ja … Ich meine, dieser Geist macht nicht einfach die Umgebung blau und lässt Eis entstehen. Er ist … na ja, ein Vergewaltiger.«
»Selbst die menschliche Mythologie kennt die Incubi, Bianca. Einige weibliche Geister greifen schlafende Männer sexuell an; die nennt man Succubi. Geister haben keine materielle Gestalt, also müssen sie sich etwas einfallen lassen, wenn sie den Körpern von anderen Gewalt antun wollen. Sie müssen von ihnen Besitz ergreifen, sexuell übergriffig werden, sie heimsuchen … alles Teile des gleichen Musters.«
Ich schauderte. »Aber das ist so gruselig! Es gibt so viele Geister in der Welt. Ich meine, es muss doch Millionen geben. Balthazar, wenn sie alle zu so etwas fähig sind …«
»Warte eine Sekunde. Es gibt nicht Millionen von Geistern. Eigentlich sind sie sogar ganz schön selten. Sehr viel seltener als Vampire auf jeden Fall.«
»Das ist nicht möglich. Beinahe alle menschlichen Schüler hier sind in Spukhäusern aufgewachsen.«
»Was? Du willst mich wohl auf den Arm nehmen.«
»Vic hat es herausgefunden. Geister bei fast jedem zu Hause. Wenn das stimmen sollte, dann muss es Hunderte und Tausende von Spukhäusern geben …« Meine Stimme wurde leiser, während mir klar wurde, dass das nicht die einzige Möglichkeit war.
Entweder gab es unzählige Häuser auf der Welt, die heimgesucht wurden, sodass eine beliebige Anzahl von Leuten meines Alters an einem solchen Ort aufgewachsen sein könnte. Oder es war einfach etwas wie Zufall, dass so viele von ihnen hier gelandet waren. Oder es war die Antwort, nach der Lucas und ich schon so lange suchten. Das war also der Grund dafür, dass Mrs. Bethany es menschlichen Schülern gestattete, die Evernight-Akademie zu besuchen. Nicht alle menschlichen Schüler konnten sich anmelden; nur diejenigen, die eine Verbindung zu Geistern hatten, kamen durch die Türen.
»Mrs. Bethany sucht nach Geistern«, flüsterte ich.
»Was?«
Ich erklärte es Balthazar, so gut ich konnte, aber meine Worte überschlugen sich vor Aufregung. »Das muss es sein. Wenn die Schüler erst mal hier sind, dann hat sie auf Jahre hinaus eine Verbindung zu den entsprechenden Heimen und Familien. Wenn sie in das Haus von irgendeinem dieser Schüler möchte, dann kann sie das vermutlich auch.«
»Ich gebe zu, dass das alles kein Zufall sein kann«, sagte Balthazar. Langsam begann er zu grinsen. »Aber warum sollte Mrs. Bethany nach Geistern Ausschau halten? Sie hassen uns. Wir hassen sie. Normalerweise machen wir einen weiten Bogen um sie, und sie erwidern den Gefallen.«
»Heutzutage nicht mehr. Irgendetwas hat sich verändert. Der alte Waffenstillstand gilt nicht mehr.« Ich schauderte, zog meine Beine gegen die Brust und legte meine Arme darum. »Sie sind hinter uns her. Die Geister haben es entweder auf diese Schule oder auf die Vampire ganz allgemein abgesehen. Mrs. Bethany muss so etwas kommen sehen und deshalb die Schüler
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