Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
aufgenommen haben, um die Geister entweder zur Strecke zu bringen, oder vielleicht auch nur, um an sie herankommen zu können.«
Balthazar trommelte mit den Fingern auf das Fensterbrett. »Du bist da irgendetwas auf der Spur. Denk doch mal nach, Bianca: Jahrhundertelang traut sich kein Geist nach Evernight, und dann tauchen sie plötzlich in Scharen auf, sobald wir hier auch menschliche Schüler haben?«
»In Scharen?« Ich dachte an das Mädchen, das ich Anfang des Jahres gesehen hatte, an den Frostmann im Nordturm und schließlich an das, was den Herbstball beendet hatte, was auch immer das gewesen sein mochte, denn es schien keine körperliche Gestalt angenommen zu haben. »Ja, es ist nicht nur einer. Aber es hat auch nicht sofort begonnen. Es hat ein Jahr gedauert, bis der Spuk anfing.«
»Wenn man davon ausgeht, dass es zunächst nur kleine Vorfälle waren, dann kann die Heimsuchung schon letztes Jahr begonnen haben. Wir müssen es ja nicht unbedingt sofort bemerkt haben.«
Endlich war es so weit. Endlich hatte ich es verstanden. Die Geister waren nach Evernight gekommen, und was auch immer wir bislang gesehen hatten, war nur der Anfang gewesen.
»O mein Schatz, ich liebe es.« Mom ließ ihr neues Armband über ihr Handgelenk gleiten, dann küsste sie meinen Vater auf die Wange. Dafür, dass er schon seit mehr als dreihundert Jahren Weihnachtsgeschenke für sie kaufte, machte er seine Sache ganz gut, dachte ich, denn er schaffte es immer noch, Dinge zu finden, mit denen er ihr eine Freude bereitete. Aber vielleicht war es auch einfach nur der Trick ihrer langen Beziehung, dass sie sich praktisch über jedes Geschenk, jede Geste, jedes Wort freute.
Dad zerstrubbelte mir mein Haar. »Den Rest deiner Geschenke heben wir auf, damit du sie auspacken kannst, wenn Balthazar da ist. Mach nur dies hier auf, in Ordnung?«
Gehorsam nahm ich ein Geschenksäckchen entgegen, das, wie sich herausstellte, einen tränenförmigen Anhänger an einer antiken, grünlichen Kupferkette enthielt. »Der ist aber hübsch«, sagte ich und wog ihn in meiner Hand. »Was für ein Stein ist das?«
»Obsidian«, antwortete Mom. »Häng ihn dir mal um, damit wir ihn sehen können.«
Sie strahlten mich an, als ich mir die Kette um den Hals gelegt hatte. Ich fand, dass Obsidian eine seltsame Wahl war, aber der schwarze Glanz des Steins war wirklich wunderschön.
Wie verlebte Lucas wohl diesen Tag? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Kate oder Eduardo ihm Weihnachtsgeschichten erzählt hatten, als er noch ein Kind war, oder dass das Schwarze Kreuz lange genug an einem Ort geblieben war, damit er einen Christbaum hatte. Ich malte mir aus, wie er wohl als kleiner Junge gewesen war, mit sandfarbenem Haar und großen Augen, und wie er sich Spielsachen gewünscht hatte, die er nie bekam. Und bestimmt hatte er sich nie beklagt. Vielleicht schlief er in ebendiesem Augenblick auf einer Pritsche in einem elendigen Parkhaus, ohne Geschenke oder Süßigkeiten oder festliche Musik. Das Bild in meinem Geist sah trostlos aus, und ich erinnerte mich wieder daran, wie er mir mal erzählt hatte, dass er nie eine Art von normalem Leben geführt hatte.
Bei der Vorstellung von Lucas’ einsamen Weihnachtsmorgen wurde mir das Herz schwer.
Bis zu unseren traurigen Unstimmigkeiten im Observatorium war mir nie klar geworden, wie sehr ich darauf gebaut hatte, dass Lucas und ich eines Tages nicht mehr in verschiedenen Welten würden leben müssen. Irgendwie musste er sich eines Tages vom Schwarzen Kreuz lossagen. Ich hatte gehofft, dass er mit mir gemeinsam zum Vampir werden würde, eine Möglichkeit, die er nun für immer ausgeschlagen hatte.
Aber wenn das keine Zukunft für uns sein konnte, wie sollte Lucas dann je frei sein? Und wie konnten wir je zusammen sein?
15
Als der Unterricht wieder anfing, war ich erleichtert. Meine melancholische Grundstimmung hatte sich als treuer Begleiter erwiesen und sie war noch schlimmer geworden, solange ich genug Zeit und Muße gehabt hatte, über diverse Dinge zu brüten. Als sich die Gänge nun wieder mit Schülern füllten und die Hausaufgaben sich stapelten, hatte ich wenigstens ausreichend zu tun und hörte eine Zeit lang auf, über meine Sorgen nachzudenken.
Offenbar hatte ein Großteil der Evernight-Schüler ebenfalls viel Zeit damit zugebracht, über seine Probleme nachzugrübeln, vor allem über das Problem, eine Schule zu besuchen, die von einem Spuk heimgesucht wurde. Etliche der Vampirschüler
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