Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
so nahm sich Lucas einen Tag frei und fuhr mit mir dorthin. In dem Augenblick, in dem wir das Gebäude betraten, sahen wir, dass die Behandlung hier kostenlos war. Beinahe alle Stühle im Wartezimmer waren besetzt. Auf einigen saßen alte Leute, die einsam und verloren aussahen, auf anderen hatten ganze Familien Platz genommen, deren Mitglieder offenbar zusammen hierhergekommen waren. In jeder Ecke hörte man Husten. Gelbe Poster an den Wänden warnten vor verschiedenen Gesundheitsrisiken, schienen sich aber ein wenig zu sehr auf solche Krankheiten zu konzentrieren, die durch Geschlechtsverkehr übertragen wurden.
Ich schrieb meinen Namen ans Ende einer wirklich langen Liste auf einem kopierten Formular, das auf einem abgestoßenen, alten Klemmbrett steckte. Der ganze Ort roch nach Desinfektionsmitteln.
»Setz dich doch«, sagte Lucas. »Du solltest nicht so lange stehen.«
Auch wenn ich ihm gerne gesagt hätte, dass er sich nicht wie eine Glucke benehmen sollte, musste ich mich wirklich dringend hinsetzen. Ich fühlte mich geschwächt, und mein Körper schwankte unkontrolliert zwischen Hitze- und Kälteschüben. Manchmal sehnte ich mich nach einer Decke, dann wieder erschien es mir sogar in meinem Sommerkleid erstickend heiß.
Lucas setzte sich neben mich, und wir blätterten einige Zeitschriften durch, die im Wartezimmer herumlagen. Die meisten von ihnen handelten von Eltern mit kleinen Kindern. Die Titelbilder zeigten glückliche, gesunde, strahlende Kinder, die nicht viel gemeinsam hatten mit dem schreienden Nachwuchs, von dem wir umgeben waren. Alle Zeitschriften vergilbten bereits und waren voller Eselsohren, und die erste, die mir in die Hände fiel, war beinahe zwei Jahre alt.
»Dieser Ort ist gruselig«, flüsterte ich Lucas zu.
»So schlimm ist es doch gar nicht«, antwortete er mit einem Achselzucken. Ich ahnte, dass Lucas vermutlich noch nie irgendwo anders hingebracht worden war, um medizinisch behandelt zu werden. Das Schwarze Kreuz wollte wenig bezahlen, und sie waren wahrscheinlich nie lange genug an einem Ort gewesen, um einen Hausarzt zu haben.
Ich erinnerte mich an meinen Kinderarzt in Arrowwood, Dr. Diamond. Er war ein freundlicher Mann mit Brille gewesen, der mich immer ein Pflaster mit meiner Lieblings-Comicfigur aussuchen ließ, ehe er mir eine Spritze gab. Mom sagte, dass sie mich zu ihm gebracht hätten, seitdem ich ein winziges Baby gewesen war, und ich war gerade erst zu alt für seine Praxis geworden, als wir nach Evernight zogen. In all diesen Jahren, in denen er mich geimpft und meine Reflexe untersucht hatte, war ihm nie irgendetwas Seltsames an mir aufgefallen – obwohl er einmal angemerkt hatte, dass meine Mutter nicht zu altern schien.
Meine Erfahrungen mit Dr. Diamond hatten mich zu der Überzeugung gebracht, dass ein Arzt mir würde helfen können, wenn ich mir nur einen ganz normalen Virus eingefangen haben sollte. Wenn das Problem aber ein vampirisches war, nun ja, dann hätte ich eben Pech, und der Doktor würde vor einem Rätsel stehen.
Es dauerte ewig, bis sie endlich meinen Namen aufriefen, aber schließlich ertönte er doch noch. Lucas winkte mir hinterher, als ich hineinging.
Eine kräftig gebaute Schwester, auf deren Namensschild SELMA stand, trat hinter mir ins Behandlungszimmer. »Was ist denn das Problem?«
»Ich habe Schwächeanfälle.« Die Papierauflage auf der Liege knautschte, als ich mich darauf niederließ. »Und ich mag nichts mehr essen.«
Selma warf mir einen Blick zu. »Könnte es sein, dass Sie schwanger sind?«
»Nein!« Meine Wangen brannten. Ich wusste, dass Ärzte solche Art von Fragen stellten, aber ich war trotzdem nicht richtig darauf vorbereitet gewesen. »Ich meine … Ich hatte … Ich mache … Ich bin sexuell aktiv, sagt man wohl, aber wir waren vorsichtig. Und ich weiß, dass ich nicht schwanger bin. Ganz sicher nicht. Wirklich nicht.«
»Wir werden Sie mal untersuchen.« Selma steckte mir ein Thermometer in den Mund, und gehorsam hielt ich es unter der Zunge fest, während sie nach der Manschette zum Blutdruckmessen griff. »Wie fühlen Sie sich heute?«
Ich wackelte mit einer Hand hin und her: So la-la.
Selma nickte und schob mir die Manschette über den Arm, doch dann hielt sie inne. Ich warf ihr einen Seitenblick zu und entdeckte, dass sie auf den Ablesebildschirm des Thermometers starrte. Dort wurden 33 Grad angezeigt.
Ich war schon immer etwas kühl gewesen. Dr. Diamond hatte immer Witze über meine 36 Grad gemacht –
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