Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
dagegen, aber ich hatte keine Fäuste, mit denen ich hätte schlagen können, und keine Füße, um sie fest auf den Boden zu drücken. Meine ganze Willenskraft schien nichts zu nützen. In meiner Niedergeschlagenheit und Verzweiflung fühlte ich mich so verängstigt und verwirrt wie ein Kind, das sich verirrt hat und nun nach seinen Eltern ruft.
Und dann war da kein Nebel mehr.
Stattdessen tauchte ich in Evernight auf.
Ich sah mich um und versuchte zu verstehen, was los war. Ich wusste, dass ich nicht in eine Erinnerung eingetaucht war, denn ich hockte auf dem steinernen Gargoyle draußen vor meinem Schlafzimmerfenster, und das war definitiv nichts, was ich schon einmal ausprobiert hatte. Es fühlte sich auch nicht wie ein Traum an, auch wenn ich nicht wusste, wie sich Geisterträume anfühlten, falls es so etwas überhaupt gab.
Nein, auch wenn es seltsam klang, so schien mir doch die logischste Erklärung die zu sein, dass ich mich irgendwie zur Evernight-Akademie bewegt hatte. Vielleicht war es meine Aufgabe für die Zeit nach dem Leben, Mrs. Bethany heimzusuchen oder irgendetwas in der Art.
Ich starrte hinunter und sah das finstere Gesicht des Gargoyles. Verletzte ich vielleicht seine Würde, indem ich auf seinem Kopf saß?
Zum ersten Mal seit dem Moment auf Vics Dachboden hatte ich das eindeutige Gefühl einer physischen Existenz. Ich konnte sogar meine Füße sehen, die neben den Klauen des Gargoyles baumelten. Und so presste ich meine Handflächen gegen die Scheibe, vor allem, um etwas mit meinen Händen zu tun, doch auch in der Hoffnung, irgendetwas im Innern des Zimmers erspähen zu können.
Als meine Fingerspitzen das Glas berührten, überzog sich die Oberfläche mit Eis. Ich sah zu, wie sich die Eisranken ausbreiteten und zu fedrigen Mustern wurden, die die gesamte Fensterscheibe bedeckten. Damit hatte sich der Wunsch erledigt, unbemerkt herauszufinden, was in meinem alten Schlafzimmer vor sich ging. Aber der Effekt war cool.
Ich hörte unter mir Geräusche und sah hinab. Zu meiner Überraschung parkten mehrere Lkws in der Auffahrt, und mindestens ein Dutzend Leute wuselte drum herum. In den vergangenen Sommern, die ich in der Evernight-Akademie verbracht hatte, war es immer beinahe unerträglich still gewesen. Niemand war zu Besuch gekommen außer einigen Lieferanten und dem Wäscheservice. Wer also waren all diese Leute? Es dämmerte mir, als ich sah, dass sie alle Overalls trugen. Dies waren die Arbeiter, die Evernight wiederaufbauten!
Vorher hatte ich nicht viel gehört, was zum Großteil, wie ich dachte, daran lag, dass ich nicht gelauscht hatte. Wie seltsam, sich dazu entschließen zu müssen, die Ohren zu spitzen. Nun konnte ich das Kreischen von Motorsägen und die Schläge von Hämmern hören. Der größte Lärm schien vom Dach zu kommen, aber wahrscheinlich waren die Leute auch im Innern des Gebäudes hart am Arbeiten. Trotz der Tatsache, dass ich die Evernight-Akademie verabscheute, hasste ich das Schwarze Kreuz noch mehr, und so verschaffte mir der Gedanke, dass der Schaden, den das Feuer des Schwarzen Kreuzes verursacht hatte, beseitigt wurde, eine grimmige Genugtuung. Von Mrs. Bethany war auch nichts anderes zu erwarten gewesen.
Dann hörte ich eine Stimme aus meinem Schlafzimmer. »Adrian?«
Das war meine Mom, die nach meinem Vater rief.
Ich drehte mich wieder zum Fenster, begierig darauf, einen Blick auf sie zu erhaschen, doch noch immer überzog Eis die Fensterscheibe. Vermutlich war es das, was Mom aufgefallen war. Reib doch am Glas !, dachte ich. Wenn du die Scheibe freikratzt, dann kannst du mich sehen.
Im Innern der Wohnung erklangen Schritte, die näher kamen. Dann hörte ich meinen Dad sagen: »Hilf Himmel!«
Ich presste aufgeregt die Hände aufs Glas. Zu aufgeregt, denn die Eisschicht wurde dadurch dicker. Nun würde es noch schwerer für die beiden sein, mich zu entdecken. Aber sie würden mich doch noch sehen, oder?
»Wir wussten, dass die Geister wiederkommen würden.« Dads Worte klangen hart und kalt. »Mrs. Bethany hat uns davor gewarnt.«
»Aber hier… in Biancas Zimmer …« Mom klang, als ob sie weinte.
»Ich weiß«, sagte Dad leise. »Sie suchen noch immer nach ihr. Wenigstens wissen wir so, dass sie sie noch nicht gefunden haben und dass sie am Leben ist.«
Oh, Dad . Ich schlug mir die Hände vor den Mund, als ob ich auch jetzt noch weinen könnte und meine Tränen zurückhalten müsste.
»Dieses Mal können wir sie abwehren«, sagte meine Mutter,
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