Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
und ihre Stimme zitterte, war aber entschlossen.
Was meinte sie damit? Ich versuchte mir vorzustellen, worauf sie anspielen mochte … Vielleicht auf einen Trick, den Mrs. Bethany ersonnen hatte …
Es traf mich wie eine Wand: Eine entsetzliche Kraftwelle trieb mich vom Fenster, vom Gargoyle, der Evernight-Akademie und allem, was sonst real war, fort. Die körperliche Gestalt, die ich innegehabt hatte, zerfiel wie eine Sandburg unter einer Welle. Ich war zu überrascht, als dass ich irgendetwas anderes bemerkt hätte, als dass ich wieder im Nebel verloren war, ein Nichts, ein Niemand, ein totes Ding.
»Warum bist du dort hingegangen?«, fragte Maxie. Ihre Anwesenheit, so ärgerlich sie auch war, war mein einziger Fixpunkt in der wirbelnden Unwirklichkeit. »Willst du zerstört werden?«
»Ich wurde bereits zerstört.«
»Das glaubst du.« Ich konnte das hochmütige Lächeln in ihren Worten hören. »Es kann viel, viel schlimmer als das kommen.«
»Was genau kann denn wohl schlimmer sein als der Tod? Ich kann nie mehr mit meinen Eltern zusammen sein. Und ich kann niemals mehr Lucas nahe sein.«
»Stimmt. Nun ja, stimmt fast.«
»Was meinst du mit stimmt fast ?«
»Es gibt noch eine Möglichkeit, wie du deinem teuren Lucas Hallo sagen kannst. Es wird euch beiden mehr wehtun, als wenn du vernünftig bist und einfach weggehst. Aber du weißt ja nie, wann Schluss ist, oder? Hier, versuch dies.«
Ich hatte das Gefühl, als ob ich nach vorne gezerrt würde, und dann sah ich Lucas. Er befand sich noch immer im Weinkeller, aber jetzt war er allein. Er lag vollständig angezogen auf dem Fußboden, hatte sich aber ein Kissen unter den Kopf geschoben und ein Laken über sich ausgebreitet. Ich hatte das Gefühl, es war viel zu lange her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, obwohl es vermutlich erst am Nachmittag gewesen war. Ich ahnte, dass die Erschöpfung ihn gezwungen haben musste, ein bisschen zu schlafen. Balthazar war nirgends zu sehen.
Lucas bewegte sich unruhig unter dem Laken. Einen Moment lang fragte ich mich, warum er auf dem Boden schlief, ehe ich mich entsann, dass ich in unserem Bett gestorben war. Wahrscheinlich wollte sich Lucas allein nicht auf diese Matratze legen.
»Du meinst, du willst wieder bei ihm sein, ja?«, fragte Maxie. »Also, dann los.«
Mir nichts, dir nichts waren Lucas und ich in der Buchhandlung in Amherst, allein in der Kelleretage, wo die Lehrbücher standen. Lucas kniete auf dem Boden und hielt ein wissenschaftliches Astronomiebuch in den Händen. Ein Komet zog auf der aufgeschlagenen Seite einen Feuerschweif hinter sich her.
»Lucas?«, fragte ich.
Er sah auf, und seine Augen waren sofort voller Erleichterung und Staunen. »Bianca? Du bist hier?«
»Ja … Aber wo ist hier ?«
Lucas ließ das Buch fallen und umschlang mich mit den Armen. Der Schock, seine Arme an meinem Rücken zu spüren, und der ersehnte Druck seines Körpers gegen meinen ließen mich vor Überraschung und Freude aufschreien.
»Du lebst«, flüsterte er mir ins Ohr. »Ich dachte, du wärst tot. Ich war so sicher, dass du tot bist.«
Aber ich bin tot . »Lucas, wo sind wir?«
»Ich wollte dich in den Sternen finden. Siehst du?« Anstatt auf das Astronomiebuch zu zeigen, das er auf den Boden hatte fallen lassen, deutete Lucas nach oben. Zu meiner Verblüffung sah ich über uns nicht die Decke der Buchhandlung, sondern den Nachthimmel, an dem die hellen Sterne funkelten. Lucas sagte: »Ich wusste, dass ich dich dort finden würde. Erinnerst du dich an die Passage aus Romeo und Julia , die du zitiert hast, als du mich davon überzeugen wolltest, dass auch Julia eine Astronomin war?«
Ich flüsterte: »Komm, milde Nacht! Komm, gib mir meinen Romeo! Und stirbt er einst, nimm ihn, zerteil in kleine Sterne ihn: Er wird des Himmels Antlitz so verschönen, dass alle Welt sich in die Nacht verliebt und niemand mehr der eitlen Sonne huldigt.«
»Ja«, murmelte er in mein Haar. »Deshalb wusste ich, dass ich dich dort finden würde.«
Langsam bahnte sich das Verstehen den Weg. Traurig stellte ich fest: »Das ist ein Traum.«
»Ich träume nicht.« Lucas umarmte mich noch fester. »Ich kann es nicht glauben.«
Ich war in Lucas’ Traum. Raquel hatte mir davon erzählt, dass ihr Geist sie angriff, während sie schlief. Ich hätte es wissen müssen, dass Geister in die Traumwelten Schlafender eindringen konnten. Also konnte ich nur in seinen Träumen bei Lucas sein? Das war so wenig, und doch war
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