Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
worden und hatte so meine Chancen darauf, doch noch fliehen zu können, zunichte gemacht. Und nun waren Mrs. Bethany und ich nicht mehr länger allein. Ein halbes Dutzend Vampire war am Rand des Zimmers aufgereiht, und sie starrten mich ebenso gierig an wie Mrs. Bethany. Die meisten von ihnen waren Lehrer, aber es waren auch ein paar Schüler dabei. Keiner der Leute, die ich besonders gut kannte, aber eines wusste ich ganz genau: Sie waren uralt und sehr mächtig. Mrs. Bethany hatte ihre Vertrauten mit Bedacht ausgewählt.
»Ich weiß nicht, wie viele von uns ins Leben zurückkehren können, Miss Olivier.« Mrs. Bethany griff in die Tasche ihres langen Rockes und zog die Klinge hervor, an die ich mich von Samuels Zurückverwandlung noch gut erinnerte. »Aber in meinem eigenen Namen und dem meiner Anhänger möchte ich Ihnen meine tiefe Dankbarkeit ausdrücken.«
»Sie können zur Hölle fahren«, antwortete ich.
»Wir sind Vampire«, sagte Mrs. Bethany, und einen Augenblick lang sah ich ein Echo der Dunkelheit und des Selbsthasses, die ich in den letzten Monaten bei Lucas zu sehen bekommen hatte. »Wir sind bereits dort.«
»Sie töten mich.« Ich konnte es noch immer nicht glauben, obwohl es bereits begonnen hatte.
»Wenn es Ihnen hilft, dann sollten Sie daran denken, dass Sie mich ebenfalls töten.« Mrs. Bethany lächelte, als ob das tolle Neuigkeiten wären. »Ich habe nicht vor, lange in meiner menschlichen Gestalt zu leben. Diese verlängerte Existenz war für mich eher eine Qual denn ein Vergnügen. Ich will nun nur noch sterben, wie es schon längst hätte geschehen sollen.«
»Um zu sterben? Sie tun all dies, nur um … einfach wieder zu sterben?«
»Zu sterben, wie es schon längst hätte geschehen sein sollen.« Eine tiefe Traurigkeit verdunkelte ihre Augen. »Um dorthin zu gelangen, wo ich nach dem Tod hätte hinkommen sollen, um dort wieder mit jenen vereinigt zu sein, die ich in meinem wahren Leben gekannt habe.«
Mit Christopher, schoss es mir durch den Kopf. Sie denkt, wenn sie als Mensch stirbt, dann kann sie wieder bei Christopher sein.
Sie schob den Ärmel ihrer Spitzenbluse hoch, setzte das Messer an und durchschnitt die Haut ihres Handgelenkes. Vampirblut lief ihr über die Hand, und in mir stieg ein unbändiger Hunger auf, wie ich ihn nie zuvor gespürt hatte. Ich wollte ihr Blut nicht trinken, ich wollte mich mit ihm vermischen. Der Instinkt, in Mrs. Bethany zu fahren, ein Teil von ihr zu werden und mich selbst für immer zu verlieren, war mächtiger als alles, was ich mir je hätte träumen lassen.
Nicht. Halte aus. Denk an Lucas, denk an jeden, den du je geliebt hast, und halte für sie durch. Doch noch während ich das dachte und versuchte, mich mit all meiner Stärke daran zu klammern, merkte ich, wie meine Entschlossenheit sich mit dem Rest von mir auflöste. Meine menschliche Form begann, zu Dunst zu werden. Mrs. Bethany hob triumphierend die Hand. Bald würde sie wieder ein Mensch sein, und ich wäre ein … Nichts.
In diesem Augenblick ertönte ein Hämmern gegen die Tür, das die Vampire zusammenfahren ließ. Wieder donnerte es gegen das Holz, welches nachgab, sodass Splitter und Perlmutt in alle Richtung davonflogen. Lucas platzte herein, eine Armbrust in der Hand.
Entweder begriff er sofort, was los war, oder er hatte beschlossen, Mrs. Bethany zuerst zu töten und hinterher Fragen zu stellen. Er legte die Armbrust an, aber Mrs. Bethany machte einen Satz auf ihn zu und stieß die Waffe zur Seite, sodass sich der Pfeil in die Decke bohrte.
»Lassen Sie Bianca los«, brüllte Lucas, während er mit Mrs. Bethany rangelte, um die Kontrolle über die Armbrust zurückzuerobern.
»Bianca gehört nicht länger Ihnen«, antwortete Mrs. Bethany und gab ihm einen Stoß, der ihn rückwärtstaumeln ließ. »Jetzt gehört sie mir.«
Auch die anderen Vampire stürzten sich nun auf ihn, doch Lucas war nicht allein gekommen. Balthazar und meine Mutter platzten ebenfalls durch die Überreste der Tür; Balthazar hatte sein Florett dabei, meine Mutter griff sich einfach den nächstbesten Vampir und versetzte ihm einen Hieb.
Ich wirbelte währenddessen herum, orientierungslos und außerstande zu widerstehen, während der Kampf um mich herum heftiger wurde. Mir schien er in Zeitlupe abzulaufen; es war wie in einem Traum und doch nur umso entsetzlicher durch die Unverkennbarkeit des Ausmaßes an Gewalt. Ich entdeckte meinen Vater, der ein abgebrochenes Stuhlbein wie einen behelfsmäßigen
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