Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
geschworen, die zahllosen Jahrhunderte unserer Existenz zu ertragen, nur um mich nicht allein zurückzulassen. Ich konnte Lucas dazu bringen weiterzumachen, aber es wäre nicht richtig für ihn. Nichts würde je wieder richtig sein. Unser letzter Versuch, einfach glücklich zu sein, hatte ein jähes Ende gefunden, als Charity ihn verwandelte. Ich schloss Lucas fest in die Arme, und er erwiderte die zärtliche Geste. Seine Stimme an meiner Schulter klang erstickt, als er sagte: »Ich wünschte, sie hätte mich niemals zusehen lassen. Es ist noch schlimmer zu wissen, dass es einen Ausweg gibt, den ich nie werde wählen können.«
Mrs. Bethany hatte ihm gezeigt, wie er wieder ins Leben zurückkehren könnte. Sie hatte ihn für sich gewinnen wollen, doch sie war sich auch über die Kehrseite im Klaren gewesen. Wenn er bei ihren Plänen nicht mitmachte, würde ihn die bloße Möglichkeit für alle Ewigkeiten quälen.
Ich versuchte, mir zu sagen, dass alles gut werden würde, solange wir nur beisammen wären, aber so einfach war die Welt nicht. Das wusste ich inzwischen.
Auf der Kinoleinwand versuchte Deborah Kerr, das Empire State Building zu erreichen, doch ich hatte den Film schon gesehen. Ich wusste, dass sie es nicht schaffen würde.
In dieser Nacht hatte ich vorgehabt, wieder in Lucas’ Träume einzudringen. Nun, da Charity dauerhaft aus seinem Geist vertrieben war, war es endlich sicher für uns beide, dort beisammen zu sein. Doch nach all den Erkenntnissen, die ich in der Nacht gewonnen hatte, glaubte ich, ihm noch nicht wieder in die Augen sehen zu können. Und so schwebte ich ruhelos durch die Gänge. Zum ersten Mal fühlte ich mich wirklich wie ein Geist.
Ich sollte mir ein Tuch über den Kopf hängen , dachte ich. Und dann würde ich jedes Mal »Buhh!« rufen, wenn ich jemanden treffe . Ich könnte auch im Schlaftrakt der Mädchen spuken oder in der Großen Halle …
Und dann wurde mir schlagartig klar: Wenn unsere Pläne aufgingen, dann wäre dies die allerletzte Nacht, die ich je in der Evernight-Akademie verbringen würde.
Trotz all der schrecklichen Dinge, die hier geschehen waren, merkte ich, dass ich so viel an diesem Ort liebgewonnen hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es werden würde, nie wieder hier zu sein. Diese Schule war Teil meines Lebens geworden – und zwar ganz buchstäblich, nun, da ich ein Geist war. Ich hatte eine Bindung zu dem Grundgestein dieses Gemäuers aufgebaut. Selbst wenn ich für immer wegginge, würde mich Evernight zurückrufen können.
So besuchte ich all die Orte noch einmal, an die ich mich noch erinnerte, hatte die Worte im Ohr, die vor langer Zeit gesprochen worden waren, und sah uns alle so, wie wir einst gewesen waren: Raquel an ihrem ersten Tag, wie sie mit finsterer Miene hinten in der Großen Halle steht, während Mrs. Bethany ihre Willkommensrede hält. Balthazar, der im Kurs Moderne Technologien lernt, wie man mit einem Handy Fotos macht. Vic und Ranulf, wie sie sich draußen mit mir die Sterne ansehen. Patrice, die mir für mein allererstes Date die Haare flicht, und Courtney, die auf der Treppe steht und Klatsch und Tratsch verbreitet. Mom und Dad, die mir zulächeln, wenn wir uns zwischen den Unterrichtsstunden auf den Gängen treffen. Und überall Lucas: Wie er mit mir in der Bibliothek tuschelt, wie er mir in meinem Anfangsjahr hinterherläuft, um mich zu retten, und wie er mich zum ersten Mal im Pavillon küsst …
Aber als meine Gedanken zu Lucas wanderten, fiel mir sofort wieder das Dilemma ein, in dem er steckte.
Wie kann ich ihn bitten, sich der Unsterblichkeit zu stellen, wenn sie das Letzte ist, was er je erlangen wollte?
Ich merkte, dass ich mich danach sehnte, eine Zeit lang sichtbar zu sein. Oft war es so, dass ich die Dinge dann klarer sah, und es hatte etwas Tröstliches, wenn man die Arme um den eigenen Körper schlingen konnte. Deshalb glitt ich hinauf in den Aktenraum und nahm Gestalt an.
Um diese Nachtzeit war jeder im Bett, und der Raum war leer. Die Fallen waren alle, in Kisten versteckt, in die unteren Etagen der Schule geschafft worden; der Raum war jetzt nichts weiter als unser Treffpunkt. Patrices Deutschbuch lag mitten auf dem Sitzsack, und Vic hatte eine seiner Krawatten mit einem Hula-Mädchen darauf vergessen. Ich lächelte und löste den Stein in der Wand, in dem mein Korallenarmband verborgen lag …
Und ein entsetzliches, übelkeiterregendes Ziehen erfasste mich.
Eine Falle ! Ich versuchte, mich am Fenstersims
Weitere Kostenlose Bücher