Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
Schulter fuhr, spürte ich eine lauwarme Feuchtigkeit unter meinen Fingern, und als ich meine Hand fortnahm, sah ich Blut – silbern und sehr seltsam. Mir war bis zu diesem Moment überhaupt nicht klar gewesen, dass ich noch Blut in mir hatte. Die Flüssigkeit glänzte wie Quecksilber und schimmerte beinahe im Dämmerlicht.
Der Kampf zwei gegen einen vor mir wurde heftiger, Balthazar trat Lucas in den Magen, dieser wiederum hieb Ranulf seine Faust gegen den Kiefer. Als Balthazar jedoch sah, dass ich verletzt war, rief er: »Bianca, bleib, wo du bist! Du blutest!«
Was hatte das zu bedeuten? Vampire tranken ja wohl nicht das Blut von Geistern, also stand nicht zu befürchten, dass ich Lucas’ Mordlust noch weiter anstachelte. In diesem Moment war ich mir nicht sicher, ob Lucas überhaupt noch blutrünstiger würde werden können, als er es ohnehin schon war. Er war zwar jünger und schwächer als die anderen, aber die Verzweiflung verlieh ihm Kraft und machte ihn gefährlich. Es war möglich, dass er sowohl Balthazar als auch Ranulf besiegen würde. Das mit anzusehen würde ich nicht ertragen können, aber auch die Alternative wäre nicht auszuhalten. Meine Angst wuchs – und schlug in Zorn um.
Genug.
Ich ging auf die drei zu, meine Fingerspitzen voller Blut, und streckte ihnen meine Hände entgegen, während ich schrie: »Aufhören!«
Blutstropfen spritzten durch die Luft, und die drei zuckten zurück.
Neben mir flüsterte Balthazar: »Misch dich hier nicht ein.«
Ich schenkte ihm keine Beachtung, sondern stellte mich unmittelbar vor Lucas. Er war zurückgewichen, bis er mit dem Rücken wieder an der Wand stand und sich wild umsah, als ob er an nichts anderes als an Flucht dächte. Aber vielleicht hielt er auch nur nach lebender Beute Ausschau. Der Tod hatte seine Gesichtszüge scharf werden lassen, was ihn gleichermaßen wunderschön und unglaublich beängstigend aussehen ließ. Das Einzige, was sich nicht verändert hatte, waren seine Augen.
Also konzentrierte ich mich darauf. »Lucas, ich bin es. Bianca.«
Er antwortete nicht und starrte mich nur vollkommen reglos an. Mir fiel auf, dass er nicht atmete – die meisten Vampire taten es einfach aus alter Gewohnheit, aber es schien, dass der Tod ganz und gar von ihm Besitz ergriffen hatte. Auf keinen Fall wollte ich mich damit abfinden.
»Lucas«, wiederholte ich. »Ich weiß, dass du mich hören kannst. Der Junge, den ich liebe, ist immer noch da. Komm zu mir zurück.« Und wieder einmal sehnte ich mich danach, Tränen vergießen zu können. »Der Tod kann mich nicht von dir fernhalten. Und er kann auch dich nicht von mir trennen. Nicht, wenn du es nicht zulässt.«
Lucas antwortete nicht, aber ein wenig von der Anspannung wich aus seinem Körper, und er lockerte seine Hände und seine Schultern. Er sah immer noch wirr aus, beinahe wahnsinnig, schien aber einen Hauch von Selbstkontrolle wiederzugewinnen.
Was konnte ich tun? Gab es Worte, mit denen ich zu ihm durchdringen konnte? Etwas, das ihn an früher erinnern würde?
Als Lucas damals erfuhr, dass ich die Tochter zweier Vampire war, hatte er seine Abscheu den Untoten gegenüber überwunden und an seiner Liebe zu mir festgehalten. Wenn er sich jetzt wenigstens daran erinnern könnte, was es für ihn bedeutet hatte zu akzeptieren, was ich war, dann würde er vielleicht auch dem ins Auge blicken können, was er nun selber geworden war.
Zögernd wiederholte ich seine eigenen Worte, soweit sie mir noch in Erinnerung waren: »Auch wenn du ein Vampir bist – das spielt für mich keine Rolle. Es ändert nichts daran, wie ich für dich empfinde.«
Lucas blinzelte, und zum ersten Mal, seit er von den Toten zurückgekehrt war, schienen seine Augen tatsächlich etwas wahrzunehmen. Ich sah, dass sich seine Reißzähne zurückgezogen hatten. Nun erinnerte nur noch die überirdische Blässe und Schönheit an seine Vampirnatur. Davon abgesehen sah er völlig menschlich aus. Er sah aus wie er selbst.
»Bianca?«, flüsterte er.
»Ich bin es. Oh, Lucas, ich bin es.«
Lucas drückte mich mit einer beinahe unerträglichen Heftigkeit an sich, und ich schlang meine Arme um ihn. Dann spürte ich heiße Tränen auf meiner Schulter, und ich wünschte so sehr, ebenfalls weinen zu können. Unsere Beine gaben gleichzeitig nach, und wir sanken gemeinsam zu Boden.
Über meine Schulter hinweg warf ich Balthazar und Ranulf einen Blick zu, um ihnen deutlich zu machen, dass sie uns allein lassen sollten, aber sie waren
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