Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
mochte, du hättest sicher eine bessere Chance, wenn du zurückschlagen könntest, dachte ich mir.« Lucas wirkte nachdenklich. Ich streichelte ihm mit der Hand über die Wange. »Du hast mich gehört. In deinem Traum.«
»Ja.« Lucas ließ seine Finger durch meine Haare gleiten. »Woher wusstest du von dem Albtraum? Hast du vorher schon mal versucht, mich zu besuchen?«
»Ich wollte, aber ich konnte nicht zu dir durchdringen. Ich konnte dich nicht dazu bringen, mich zu sehen.«
Seine Lippen strichen zärtlich über meine Stirn, als er sagte: »Wir werden das schon noch schaffen. Wir werden besser darin werden.«
»Okay.« Mir fiel auf, dass Lucas zum ersten Mal, seit er von den Toten zurückgekehrt war, wieder ganz er selber gewesen war. Mich zu retten hatte ihm wieder das Gefühl vermittelt, ein Ziel und einen Grund für sein Dasein zu haben.
Und ich begriff, dass auch er mein Grund dafür war, noch hier zu sein.
Lucas betrachtete mich im fahlen Mondlicht, endlich wieder völlig bei sich selbst und entschlossen. »Wir werden all diese Fallen aufspüren. Und wir werden uns etwas überlegen, wie du ihnen aus dem Weg gehen kannst. Dir wird nichts passieren, Bianca. Nicht noch einmal. Das werde ich auf keinen Fall zulassen.«
»Und ich werde mich um dich kümmern.« Ich erinnerte mich deutlich daran, was für eine Angst ich um all diejenigen gehabt hatte, die ich liebte, selbst noch in dem Moment, als die Falle mich einsog. Ja, ich war jetzt tot, aber mein Herz war noch am Leben. Um Lucas’ und all derer willen, die mir wichtig waren – um der Liebe willen, die den Tod überdauerte –, würde ich einen Platz in dieser Welt finden müssen. Wenn das bedeutete, dass ich niemals mehr ein wirklicher Teil der Welt der Lebenden oder der Toten sein würde, nun gut. Ich hatte nie nur zu einer Welt gehört, hatte immer im Schatten gelebt. Ich wusste, wie man damit klarkam, und vielleicht würde es mir mit der Zeit sogar noch leichter fallen.
Es war wohl nicht das Leben nach dem Tod, das uns von den Kanzeln herunter gepredigt wurde oder das sich die Maler erträumten, die Harfen, Flügel und Schäfchenwolken liebten. Aber mich um die Leute zu kümmern, die ich liebte, schien mir eine ganz gute Art und Weise zu sein, die Ewigkeit zu verbringen.
Während Lucas mich fest in seinen Armen hielt, wusste ich, dass er das Gleiche fühlte.
Für uns geht es noch immer um etwas , dachte ich. Irgendetwas, für das es sich zu kämpfen lohnt.
8
Lucas und ich blieben den Großteil der restlichen Nacht über wach. Arm in Am lagen wir draußen im Gras. Der Tod ließ uns den Herbstwind und die Kälte der weichen Erde unter uns nicht spüren. So hatten wir uns unter einer der großen Eichen aneinandergeschmiegt, halb zugedeckt von den ersten herabgefallenen Blättern, die der Wind wie ein Laken über uns ausgebreitet hatte. Die Blätter hatten die Farben unserer Haare: tiefes Rot und dunkles Gold. Wir waren ein Teil des Herbstes geworden. Und zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit waren wir wirklich jeder ein Teil des anderen.
»Du hast noch gar nicht gesagt, dass wir Evernight lieber verlassen sollten«, flüsterte ich.
»Glaub nur nicht, dass ich nicht darüber nachgedacht hätte.« Lucas liebkoste eine meiner Wangen. »Ich hasse es zu wissen, wie gefährlich dieser Ort für dich ist. Aber … Ich muss darauf vertrauen, dass du selber einschätzen kannst, welche Risiken du eingehen willst. Diese Abmachung haben wir getroffen, und ich werde mich daran halten.«
Angesichts der Tatsache, dass mein Kopf noch immer von der Falle in der Bibliothek schwirrte und die Kratzer auf meiner Schulter noch immer wund waren, fragte ich mich, ob ich die Risiken der Evernight-Akademie nicht würde neu bewerten müssen. Aber ich wusste, dass es am besten für uns wäre hierzubleiben, bis Lucas sich wieder richtig gefangen hatte. »Mit mir ist alles in Ordnung.« Ich küsste ihn sanft und lange. »Mir kann nichts Schlimmeres mehr zustoßen. Tatsächlich ist es eher so, dass ich gesehen habe, wie viel Gutes immer noch auf mich wartet. Dass ich hier noch eine Menge tun kann, für dich und auch für viele andere.«
Lucas verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Kein Geist, sondern ein Engel, was?«
»Es gibt viel, was du als Vampir hier tun kannst. Denk mal daran, wie vielen Schülern meine Mutter und mein Vater Gutes getan haben oder wie oft uns Balthazar aus der Klemme geholfen hat. Tot zu sein ist nicht das Schlimmste, was einem
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