Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
Vampire, die erst nach dieser Zeit verwandelt worden waren. Es war ein ungeschriebenes Gesetz in der Evernight-Akademie, dass es wie spicken war, wenn man auf historisches Wissen aus der Zeit zurückgriff, die man selbst miterlebt hatte.
Skye Tierney, die in der ersten Reihe saß, hob die Hand. »Weil der Zweite Weltkrieg noch nicht stattgefunden hatte.«
»Richtig.« Moms Blick ruhte einige Zentimeter über den Köpfen der Schüler, und sie war eindeutig nicht bei der Sache. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Anscheinend hatte sie schon seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen. »Denn niemand wollte glauben, dass die Menschheit zwei Mal so töricht sein könnte.«
Einige der Vampire grinsten, denn sie dachten offenbar, dass dies ein Seitenhieb auf die menschliche Rasse gewesen war. Sie begriffen nicht, dass Mom in Wahrheit voller Resignation war. Balthazar schloss kurz die Augen, als versuchte er, sich selbst vor der Dummheit seiner Mitschüler abzuschirmen.
Meine Mutter umklammerte das Kreidestück in ihren Händen. Ihr Blick war abwesend und ihre Stimme leiser, als sie es hätte sein sollen, denn schließlich sollte sie einen Raum voller Schüler ausfüllen.
»Der Zweite Weltkrieg hat den Glauben der Menschen an die Errungenschaften der Gesellschaft zunichtegemacht. Niemand konnte mehr Gott als Beschützer verehren, nachdem so viele Söhne und Brüder in den Schützengräben gefallen waren. Soldaten, die unter Senfgas, Beschuss aus Maschinengewehren und großem Hunger gelitten hatten, konnten nicht mehr länger ihrer Regierung und den Generälen trauen, die sie mit dem Versprechen in den Krieg geschickt hatten, dass er nur wenige Monate dauern würde. Die Frauen schulterten die Last des Krieges, arbeiteten in Fabriken und führten den Haushalt mehrere Jahre lang allein, und es gelang nie wieder, ihr Vertrauen auf Schutz zurückzugewinnen.« Stifte kratzten auf Papier; die Tasten von Laptops klapperten. Jeder glaubte, dass dies in der Prüfung drankommen könnte. Ich hingegen wusste, dass Mom sich in traurigen Erinnerungen verlor.
Sie fuhr fort: »Einige dieser Frauen hatten alle verloren, die sie geliebt hatten. Wenn sie ihren Kindern versprochen hatten, sie vor allem Unheil zu bewahren, dann waren diese Schwüre gebrochen worden. Danach konnte man nie mehr … konnten sie nie mehr an etwas glauben.«
Oh, Mom . Ich wollte sie so gern in den Arm nehmen. Ich wollte sie ganz fest an mich drücken und ihr sagen, dass alles gut werden würde. Oder war ich noch kindlich genug, dass ich hoffte, sie würde mich trösten?
Einige der Vampire, vor allem die älteren, die diese Zeit ebenfalls miterlebt hatten, sahen genauso traurig aus wie meine Mutter. Balthazar schien sich plötzlich sehr für seine Schuhe zu interessieren. Mir fiel auf, dass ich ihn noch nie gefragt hatte, was er während des Krieges getan hatte. Was auch immer ihm zugestoßen sein mochte, schien nun schlimme Erinnerungen in ihm aufsteigen zu lassen. Vielleicht konnte er aber auch nur Moms Verfassung besonders gut nachfühlen, und sie tat ihm leid.
Kümmere dich um andere Leute , erinnerte ich mich selbst. Sorg dich um sie, auch wenn du im Augenblick schlecht auf sie zu sprechen bist. Deshalb bist du hier.
Ich glitt an seine Seite. Er umklammerte seinen Bleistift mit den Fingern. Da er die Ereignisse selbst miterlebt hatte, sah er offenbar keine Notwendigkeit, sich Notizen zu machen. Also übernahm ich die Führung des Stiftes in seiner Hand und schrieb: Glaubst du, sie ist in Ordnung?
Mit einem Ruck setzte sich Balthazar aufrecht hin, aber er überwand seinen Schrecken sehr rasch. Seine Finger umfassten den Stift nun wieder fester und übernahmen erneut die Kontrolle. Nein, das glaube ich nicht.
Er lockerte seinen Handgriff, sodass ich eine Antwort schreiben konnte. Was ist mit meinem Vater? Meinst du, er kann ihr helfen?
Er hat mich gebeten, nicht an seinem Kurs teilzunehmen. Die Erinnerung wäre zu schmerzhaft, sagte er. Auch das klingt nach einem Nein. Bianca, warum zeigst du dich ihnen denn nicht? Ich hasse es, ihnen die Lüge aufzutischen, dass du für immer fort bist.
Mom und Dad hassen die Geister, schrieb ich als Antwort. Sie haben alles in ihrer Macht Stehende unternommen, um mich davor zu bewahren, mich in einen Geist zu verwandeln, und haben mit keinem Wort erwähnt, dass ich mich in etwas anderes als in eine Vampirin verwandeln könnte . Die nächsten Worte waren hart, aber ich zwang mich, sie aufzuschreiben: Ich fürchte,
Weitere Kostenlose Bücher