Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
sie werden auch mich hassen und ablehnen.
Sie sind deine Eltern. Das würden sie nicht tun. Sie würden dich akzeptieren.
So wie Lucas’ Mutter ihn akzeptiert hat?
Darauf gab es nichts mehr zu antworten.
Patrice begann auf ihrem Platz einige Reihen vor Balthazar zu frösteln. Offenbar ließ die Anwesenheit eines Geistes die Luft immer spürbar abkühlen. Einmal warf Patrice einen kurzen Blick über ihre Schulter, anscheinend neugierig, was die plötzliche Zugluft hervorgerufen haben könnte. Ich bewegte mich in Richtung Tür, denn ich konnte Moms Anblick nicht mehr ertragen, aber ich betrachtete sie lange und eingehend, ehe ich den Raum verließ. Jedes Mal, wenn ich sie nun sah, kam es mir so vor, als könnte es das letzte Mal gewesen sein.
Ich wollte mich ihr und Dad so gerne zeigen. Ich malte mir aus, wie ich vor ihnen erschien, in dem weißen Unterhemd und der wolkenbedruckten Pyjamahose – die Sachen, in denen ich gestorben war. Und wie ich mir dann das Armband überstreifte, sodass ich einen festen Körper annehmen konnte. Und sobald ich das getan hätte, gäbe es nichts in der Welt, was ich lieber täte, als mich in ihre Arme zu werfen und zu spüren, wie sie mich wieder fest an sich drückten.
Und dann stellte ich mir vor, wie sie sich von mir abwendeten. Wenn sie das täten, würde ich niemals mehr darüber hinwegkommen.
Die anderen Schüler hatten schon vor Tagen damit begonnen, sich über den bevorstehenden Schulausflug in die nahe gelegene Stadt Riverton zu unterhalten, doch ich hatte den Gesprächen keine große Beachtung geschenkt. Ich bezweifelte, dass einer meiner Freunde sich würde anschließen wollen. Die Ausflüge waren erst kürzlich eingeführt worden, um mit ihnen den menschlichen Schülern eine Freude zu machen. Die meisten Vampire verzichteten ganz darauf, weil die Fahrt nach Riverton ja bedeutete, dass man fließendes Wasser überqueren musste. Für die Vampire hieß das Schaudern, Übelkeit und manchmal eine Art Schockzustand. Außerdem war alles, was den Menschen Spaß machte, automatisch höchst uncool für die Vampire. Der einzige Mensch, mit dem ich noch Zeit verbrachte, war Vic, der vermutlich ebenfalls in der Schule bleiben würde, um mit Ranulf herumzuhängen.
Doch dann sollten sich meine Pläne ändern.
Nach Moms Unterricht drängten sich die Schüler auf den Gängen, und ich suchte nach Lucas. Ich spürte, dass er mich brauchte, und nachdem ich meine Mutter so hatte leiden sehen, brauchte ich ihn ebenfalls. Aber gerade als ich an seiner rechten Seite kam, trat Mrs. Bethany mit geschmeidigem Schritt an seine linke. »Mr. Ross.«
»Mrs. Bethany«, sagte er und warf einen raschen Blick in meine Richtung. Er spürte, dass ich da war, und offenbar war sein Beschützerinstinkt erwacht. Auch wenn wir beide wussten, dass ich unsichtbar war, hatte diese Frau etwas an sich, das mich denken ließ, sie könnte mich trotzdem entdecken.
Aber ihre Gedanken schienen vollkommen woanders zu sein. »Sie haben Ihren Namen noch nicht auf die Liste der Schüler gesetzt, die an unserem ersten Ausflug teilnehmen wollen, der uns vom Campus wegführen wird. Ich meine mich zu erinnern, dass Ihnen solche Aktivitäten immer viel Vergnügen bereitet haben.«
»Damals, als ich mich noch nicht übergeben musste, sobald ich einen Fluss überqueren wollte, ja.«
»Dieses Unbehagen ist vorübergehend«, beharrte Mrs. Bethany. »Es kann überwunden werden.«
Lucas zuckte mit den Schultern. »Ich wüsste nicht, was das bringen soll.«
»Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten, Mr. Ross. Das Geheimnis, wie ich es ertragen lernte, tot zu sein.«
Was um alles in der Welt konnte Mrs. Bethany dazu bewegen, etwas derartig Persönliches preiszugeben? Lucas sah genauso verblüfft aus, wie ich mich fühlte. »Hm, in Ordnung.« Dann schüttelte er seine Überraschung ab. »Das ist etwas, das ich wirklich gerne hören würde.«
»Im Augenblick, so vermute ich, versuchen Sie, alles zu vergessen, was Sie am Lebendigsein geliebt haben.« Mrs. Bethanys Rock raschelte, während sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte. Die Leute traten bereitwillig einen Schritt zur Seite, um genügend Abstand zu den beiden zu wahren. »Sie versuchen, Distanz zu früheren Vergnügungen zu bekommen, und Sie glauben, dass Sie für immer ohne sie auskommen müssen. Aber das ist ein Fehler.«
Lucas verlangsamte seinen Schritt und versuchte offenbar, das eben Gehörte zu verarbeiten.
»Aber es ist ja nicht so, als ob ich … ich weiß
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