Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
eine ganz schwache Ahnung seiner Anwesenheit im Raum fühlen. Er war mehr ein Umriss, der Energie verströmte, Angst und Liebe, sonst nichts. »Ich sitze fest.«
»Gib mir deine Hand!« Damit meinte er, ich solle eine Hand ausbilden und sie ihm entgegenstrecken, damit er irgendetwas festhalten konnte. Das verstand ich. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich dazu noch in der Lage war oder ob das überhaupt zu irgendetwas führen würde. Keine körperliche Kraft der Welt würde mich so einfach aus diesem Strudel herausziehen können.
Doch ich wollte Lucas’ Hand so gerne wenigstens ein letztes Mal spüren, auch wenn ich sonst nichts mehr würde tun können. Und so konzentrierte ich mich mit aller Macht, zu der ich noch fähig war, auf jene Stelle, an der meine Hand sein sollte. Ich rief mir das Bild von meinem Handgelenk, der Handfläche und von meinen Fingern vor mein geistiges Auge. Eine zartblaue Erscheinung tauchte vor mir auf, durchscheinend wie ein Rauchschleier. Es war ganz und gar nicht so, wie es sein sollte; vielleicht sahen Geister so aus, kurz bevor sie für immer verschwanden.
Dann wickelte Lucas irgendetwas um mein Handgelenk.
Das Armband! Ich sah die Korallen und das Silber in der gleichen Sekunde, in der ich einen Stoß von innerer Kraft verspürte. In Sekundenschnelle wurde mein Körper fest, und ich fiel zu Boden. Der darauf folgende Schmerz war wunderbar, denn er bedeutete, dass ich real war und dass ich noch einmal entkommen war. Eine körperliche Gestalt anzunehmen hob auf irgendeine Weise die Kraft auf, die mich gefangen gehalten hatte.
Lucas ließ sich auf die Knie fallen und schloss mich in seine Arme. Voller Entsetzen sah ich, wie der Strudel, der mich beinahe verschluckt hatte, Gestalt annahm: ein Wirbel aus Nebel und Dunkelheit, der sich an der Wand der Bibliothek geöffnet hatte. Vor unseren Augen wurde er kleiner und drehte sich immer langsamer, bis er mit dem ungleichmäßigen Putz der Wand wieder verschmolz.
»Was zur Hölle war das denn?«, fragte Lucas und presste mich an seine Brust. »Ist mit dir alles in Ordnung?«
»Ich glaube schon.« Meine Stimme zitterte, und ich fühlte mich ein bisschen so, als ob ich mich übergeben hätte – mal unter der Voraussetzung, ich hätte noch einen Magen gehabt. Aber die Orientierungslosigkeit legte sich mit jedem Moment mehr und mehr. »Mrs. Bethany macht nicht nur Jagd auf Geister. Sie … lockt sie in Fallen.«
»Das war eine Falle?« Seine Augen wurden schmal. »Dann komm weg davon.«
Ich entfernte mich und brachte so viel Abstand wie möglich zwischen mich und die Wand, während Lucas einen Schritt darauf zumachte und mit der Hand darüberfuhr. Dann hieb er urplötzlich mittels all seiner Vampirkraft mit seiner Faust auf die Stelle, an der sich der Strudel befunden hatte. Feine Wölkchen von Putz stoben auf, während Stücke der Wand zu Boden fielen.
»Sie werden wissen, dass jemand hier war«, sagte ich.
»Sollen sie doch. Wir müssen herausfinden, was das eben war.« Lucas griff in die Wand und zog eine kleine Metallkiste hervor. Sie hatte eine merkwürdige Form mit seltsamen Rundungen und Kanten. Ein wenig erinnerte sie mich an eine Muschel aus Silber und Obsidian. Der Deckel war offen, sodass man das perlmuttbesetzte Innere erkennen konnte. Zuerst glaubte ich, das sei nichts anderes als ein hübsches, antikes Schmuckkästchen. Doch dann konzentrierte ich mich auf das Perlmutt im Innern, und ich spürte, wie sie erneut an mir zu zerren begann. Mein Armband gab mir Kraft und half mir dabei, meine feste Gestalt zu behalten, sodass ich nicht in Gefahr war, aber das Gefühl war trotzdem in höchstem Maße beängstigend.
»Lucas, mach es zu! Leg es wieder zurück!«, schrie ich. Sofort klappte er das Kästchen zu und sah mich erschrocken an. Doch kaum war das Behältnis wieder geschlossen, kehrte meine Ruhe zurück.
Mit einem Satz war Lucas an meiner Seite. Ich sagte: »Das ist eine Falle. Eine Geisterfalle. Mrs. Bethany hat sie hier aufgestellt. Sie könnte … Vermutlich hat sie solche Dinger überall in der Schule aufgestellt. Sie jagt uns und lockt uns in Fallen.« Warum ?, dachte ich. Was kann sie von uns wollen? Ist es nur der Hass, oder steckt mehr dahinter?
Lucas runzelte die Stirn, als er mich näher an sich heranzog. »Gütiger Himmel. Komm hier bloß nie wieder her.«
»Jedenfalls nicht ohne mein Armband«, sagte ich und warf einen Blick darauf. »Das war ein guter Einfall.«
»Was auch immer hinter dir her sein
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