Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
passieren kann.«
Lucas war eine Weile lang still und dachte über meine Worte nach. »Es ist nur … dieser Hunger …«
»Ich weiß.«
»Wenn ich je die Kontrolle verliere und irgendjemanden verletze … oder irgendjemanden töte …«
»Das wirst du nicht.« Ich wollte so gerne daran glauben und ihm helfen, sich ebenfalls darauf zu verlassen. »Du bist stark, Lucas. Als Kind hast du die Ausbildung beim Schwarzen Kreuz ertragen, die manchen Erwachsenen hätte zusammenbrechen lassen. Du bist getarnt hierhergekommen, als du erst neunzehn Jahre alt warst, und du hast die Sache durchgezogen. Ich meine, du hast Mrs. Bethany zum Narren gehalten, und du bist seit Ewigkeiten die einzige Person, der das jemals gelungen ist.«
Lucas musste lachen. Es war eher ein wehmütiges Lachen als ein fröhliches, aber es war besser als nichts. Es fühlte sich einfach so gut an, hier bei ihm zu sein, ohne dass uns das Gewicht der Welt zu erdrücken drohte.
Ich fuhr mit meiner Aufzählung fort. »Du denkst für dich selbst, was seltener vorkommt, als es sein sollte. Du kannst zugeben, wenn du falschgelegen hast, was sogar noch weniger häufig auftritt. Du bist loyal und mutig, und du kannst Freundschaften schließen, die für immer halten. Das alles ist ein Teil von dir. Der beste Teil von dir.«
Lucas war nun sehr ernst geworden und schüttelte den Kopf. »Du irrst dich.«
»Hör mir zu …«
»Nein, du hörst mir zu.« Er drückte sich noch enger an mich. »Du bist der beste Teil von mir. Für immer.«
Ich schloss meine Augen und legte meinen Kopf auf seinen Arm. Endlich hatte ich Frieden gefunden. Zumindest für eine Nacht.
Am nächsten Tag versank die Evernight-Akademie im gewöhnlichen Strudel von Aktivitäten. In gewisser Weise , dachte ich, war sie weitaus lebendiger als ein Großteil der Schülerschaft . Auf den Fluren drängten sich die Leute. Die Vampire waren schlank und weltgewandt, der Rest der Schüler grübelte, warum er nicht so richtig hierherzugehören schien. Für mich war es jetzt unheimlicher, durch die Gänge zu schweben, weil ich nie sicher wusste, wo sich die nächste Falle befinden mochte. Aber ich ließ es ruhig angehen und war wachsam.
So weit, so gut.
Ich suchte nach Lucas, denn ich wollte ihn in den Unterricht begleiten. Natürlich wollte ich ihn nicht ablenken, denn er versuchte ernsthaft, dem Stundengeschehen zu folgen, und sei es auch nur, um die Zeit totzuschlagen. Nach unserer Wiedervereinigung in der Nacht zuvor reichte es mir, nur an seiner Seite zu sein, und ich ging davon aus, dass er das Gleiche empfand.
Aber dann entdeckte ich jemanden, der noch einsamer aussah als Lucas: meine Mutter.
Moms Kleidung war so ziemlich die gleiche wie immer: ein einfacher Rock, praktische Schuhe und ein weicher Pullover. Ihr karamellfarbenes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, den sie trug, seitdem ich denken konnte. Aber die Leichtigkeit war aus ihrem Gang verschwunden, und in ihren Augen war kein Licht mehr, während sie die Flure entlang zu ihrem Unterricht über das zwanzigste Jahrhundert trottete.
Als ich durch die Tür zu ihrem Klassenzimmer schwebte, schrieb Mom gerade etwas an die Tafel. Gemeinsam mit den anderen Schülern las ich: DIE VERLORENE GENERATION. Ich sah einige vertraute Gesichter im Raum, allen voran Balthazar. Er hatte das alles selbst miterlebt und war mehr bei der Sache als die meisten anderen Vampire. Mir war aber klar, dass er sich vermutlich in diesen Kurs eingeschrieben hatte, um nahe bei meiner Mom zu bleiben.
Oh, na sicher , dachte ich. Jetzt machst du dir Sorgen. Warum hast du nicht ein bisschen vorausgedacht, als Lucas und ich es am dringendsten nötig gehabt hätten? Balthazar hatte Lucas in den Kampf mit Charity geführt, obwohl er wusste, dass Lucas nicht er selber war, und das hatte ich ihm noch immer nicht verziehen. Aber um meiner Mutter willen, wenn schon nicht für mich selbst, kam ich nicht umhin, Dankbarkeit für ihn zu empfinden. Das Gleiche galt auch für Patrice, die einige Reihen vor ihm saß und den Kurs vermutlich aus den denselben Gründen gewählt hatte, auch wenn sie das niemals zugeben würde.
»›Die verlorene Generation‹. So nannte man die Menschen, die während des Ersten Weltkriegs – oder während des Großen Krieges, wie man ihn auch bezeichnete – volljährig wurden. Kann sich einer vorstellen, warum sie so genannt wurden?«, fragte Mom müde.
Sie hatte diese Frage natürlich an die menschlichen Schüler gestellt oder an die
Weitere Kostenlose Bücher