Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
benommen von einem Schlag, den er gegen den Kopf bekommen hatte. Er war vom Drang erfüllt, zu kämpfen und zu töten. Rasch glitt ich an seine Seite, ohne mehr tun zu können, als ihm wie ein Windhauch die Wange zu kühlen. Aber vielleicht würde ihn das wieder daran erinnern, wer er eigentlich war.
Hinter mir hörte ich Kates Stimme, und auch sie war bebend vor Zorn. »Das werdet ihr beide noch bereuen.«
»Es gibt viel, was ich bereue«, sagte Raquel. Sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt und schirmte Lucas von den Jägern ab. »Ein paar Selbstvorwürfe mehr oder weniger – was spielt das schon für eine Rolle?«
»Zur Hölle mit dir.« In Sekundenschnelle hatte Kate einen Ausfallschritt nach links gemacht und ihre Armbrust angelegt. Dana rammte ihr den Kopf in die Seite, sodass der Bolzen abgelenkt wurde. Zum Glück würde er weder Raquel noch Lucas treffen. Doch dann sah ich, dass er geradewegs auf eine der Evernight-Schülerinnen zuflog, die mit offenem Mund den Kampf verfolgt hatte; ein menschliches Mädchen, das ganz einfach nicht in der Lage sein würde, schnell genug auszuweichen.
Auch wenn der nächste Moment nur Bruchteile einer Sekunde dauerte, schien er sich mir wie in Zeitlupe endlos auszudehnen. Der Bolzen schnitt als tödliches Geschoss durch die Luft. Lucas warf sich mit der Schnelligkeit und der Kraft eines Vampirs vor das Mädchen, das in Gefahr schwebte. Ihre Körper prallten aufeinander, ihr glänzendes Haar wehte hinter ihr hoch, und die beiden stürzten zu Boden. Der Bolzen verfehlte sie nur um wenige Zentimeter und schlug in die Seitenwand des Gebäudes ein, wo er sich tief ins Holz grub.
Das Sirenengeheul kam näher, und die Menge der Schaulustigen vergrößerte sich stetig. Es waren nun schon Dutzende Zeugen – etwas, das das Schwarze Kreuz hasste. Kate musste ein Signal gegeben haben, denn ich hörte, wie die Jäger so schnell, wie sie konnten, davonrannten oder -humpelten.
Dana rief: »Lucas!«
Er lag zusammen mit dem geretteten Mädchen auf dem Boden und sah zu Dana empor. Sein ganzer Körper zitterte, und er lächelte nicht. Auch wenn Lucas seinen Blutdurst überwunden hatte, um jemand anderen zu beschützen, so wusste ich doch, dass er noch immer kurz davor stand, die Kontrolle zu verlieren.
»Nähere dich ihm nicht weiter«, warnte Patrice Dana. Sie hatte die Anzeichen richtig gedeutet und wusste, dass Lucas nahe dran war durchzudrehen. »Ihr beide habt Waffen in den Händen. Die Polizei wird glauben, dass ihr zu der Gruppe gehört, die uns angegriffen hat.«
»Wir beide haben letzte Nacht den Dienst quittiert, als Kate verkündete, dass wir Jagd auf Lucas machen würden«, berichtete Dana. »Allerdings haben wir das weder ihr noch sonst jemandem mitgeteilt.«
Raquel fragte: »Was war das – dieser eisige Wirbelwind?«
»Das war ich«, antwortete ich, noch immer unsichtbar. Alle fuhren erschrocken zusammen. »Dana, Raquel, ihr müsst auf Patrice hören. Ihr werdet festgenommen werden, wenn ihr hier noch länger herumhängt.«
»Und dieses Mal werden wir wohl kaum vom Schwarzen Kreuz rausgeboxt werden.« Dana seufzte. »Raquel, Baby, Zeit zu türmen.«
Dana rannte los, doch Raquel zögerte noch einen Augenblick und suchte vergeblich die Luft nach einer Spur von mir ab. »Bianca …«
»Ist schon okay«, sagte ich. »Ich habe verstanden.« Was eigentlich nicht ganz stimmte. Ich wusste nicht, warum genau Raquel ihre Furcht verloren hatte, die sie damals dazu getrieben hatte, mich zu verraten. Aber ich wusste, dass irgendetwas passiert sein musste und dass sie und Dana ihr Leben aufs Spiel gesetzt und das Schwarze Kreuz verlassen hatten, um Lucas zu beschützen. In meinen Augen zählte das mehr als alles andere.
Raquel versuchte, Dana einzuholen, und verschwand eben um die Ecke, als die Polizei vorfuhr. Ich bemerkte, dass Patrice sich von mir entfernte. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass sie sich zwischen Lucas und das menschliche Mädchen geschoben hatte, das von Lucas gerettet worden war: Skye Tierney. Ich begriff, dass sie auf diese Weise Lucas die Sicht auf das Mädchen versperrte. Vielleicht war es ihr rasches Auffassungsvermögen, das Lucas davor bewahrte, außer Kontrolle zu geraten. Genauer gesagt: Sie hatte womöglich gerade Skyes Leben gerettet.
Als die Beamten ausstiegen, flüsterte Patrice leise, sodass nur Lucas und ich sie hören konnten: »Überlasst die Erklärungen mir.«
Nur wenige Minuten nach Ankunft der Polizeibeamten dämmerte mir, warum
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