Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
immer einen ausgezeichneten Geschmack, was antiken Schmuck angeht, und ich wollte mich hier mal in den Läden umsehen, ob ich etwas finde, das ich zu diesem Outfit hier tragen könnte. Das ist doch eine Fahrt über den Fluss wert, meinst du nicht?«
Nichts würde Patrice davon abhalten, makellos auszusehen, aber ich empfand diesen Zug an ihr nicht länger als störend. Stattdessen erschien er mir komisch und irgendwie klasse. Sie war eben ganz sie selbst. »Okay, ich werde dich begleiten. Die anderen werden mich nicht sehen. Ich mag ja tot sein, aber ich kann immer noch shoppen gehen.«
Sie riss den Kopf hoch: »Oooohhhh, wir brauchen unbedingt ein T-Shirt mit diesem Spruch.«
Ich ging mit Patrice einkaufen und drängte sie in Richtung eines antiken Armbandes, aber obwohl es schön war, wieder mit jemandem in Verbindung zu stehen, vertrödelte ich im Grunde genommen einfach nur meine Zeit. Im Second-hand-Laden musste ich unwillkürlich daran denken, wie Lucas und ich bei einer unserer ersten Verabredungen hierhergekommen waren. Er war so fröhlich gewesen, als er fantastische lange Mäntel anprobiert und verrückte Hüte aufgesetzt hatte. Wie sorglos er gewesen war. Wie lebendig.
Es war nicht so, dass ich ihn nun, da er tot war, weniger liebte – wie könnte ich? –, aber ich wusste, dass sein Lebendigsein etwas gewesen war, das ich an Lucas geliebt hatte, und nun war es ihm genommen.
Als sich die ersten Schüler auf dem Marktplatz versammelten und auf den Bus zurück nach Evernight warteten, fehlte von Lucas noch jede Spur. Niemandem außer Skye schien das aufzufallen. Als alle einstiegen, ging sie zum Aufsicht führenden Lehrer und sagte: »Einer fehlt noch. Er könnte verletzt sein.«
»Ross? Der ist nicht verletzt.« Der Fahrer – ein Vampir – winkte ab. »Er hat mir vorhin gesagt, er hätte heute Abend eine andere Mitfahrgelegenheit zurück zur Schule. Sie werden ihn also erst morgen wiedersehen.«
Skye schien alles andere als glücklich darüber, dass Lucas zurückgelassen werden sollte, und ich verstand, warum. In jeder normalen Schule wäre das ein Anlass zur Sorge gewesen; selbst in der Evernight-Akademie hätte es für Aufruhr gesorgt, wenn ein menschlicher Schüler verloren gegangen wäre, und es wären Suchtrupps gebildet worden. Aber den Vampirschülern wurde mehr Unabhängigkeit zugestanden, und man war der Überzeugung, dass sie sich um sich selbst kümmern konnten.
Ich hoffte, dass das stimmte.
»Geh und such ihn«, flüsterte Patrice, ehe sie in den Bus einstieg. »Wir sehen uns dann später.«
Rasch entfernte ich mich vom Marktplatz in Richtung der Wälder, die zwischen der Stadt und Evernight lagen. Kaum dass die Häuser vereinzelter standen und eine nächtliche Briese mich umfing, hatte ich endlich den Frieden und die Ruhe, die ich brauchte, um mich zu konzentrieren.
Ich rief mir meine Brosche aus Jetstein vor mein inneres Auge, die Lucas hier in Riverton für mich gekauft hatte: ein schwarzer Stein mit den Umrissen einer Blume. Der Stein war einst Teil des Lebens, das früher im Herzen des Waldes pulsiert hatte.
Alles um mich herum wirbelte wie Rauch und veränderte die Farben und die Formen. Zu meiner Überraschung landete ich nicht an Lucas’ Seite. Die Brosche hatte sich in der Tasche seiner Jacke befunden, die nun lieblos dahingeworfen auf dem Waldboden lag. Als ich sie mir genauer ansah, stellte ich fest, dass sie voller Blutflecke war. Zuerst vermutete ich, dass das Blut von Lucas stammte und dass er es im Kampf vergossen hätte. Doch dann bemerkte ich, was sonst noch im näheren Umkreis lag: ein toter Waschbär; irgendein toter Vogel; ein toter Fuchs. Ihre Körper waren nicht einfach nur ausgesaugt, sondern regelrecht zerfleischt worden. Die verstreuten Tierkadaver zeugten von einem Blutrausch, der sich auf kleine Tiere anstatt auf Menschen gerichtet hatte.
Irgendwo in der Nähe konnte ich ein Bumm-Bumm-Bumm hören: Hiebe gegen Stämme, wie mit einem Holzhammer oder vielleicht auch einer Axt. Ich umklammerte die Brosche und nahm meine körperliche Gestalt an. Dann lief ich auf den Lärm zu, bis ich Lucas sah, dessen Oberkörper nur noch mit einem Unterhemd bedeckt war. Er stand mit dem Gesicht zu einem Baum und drosch darauf ein, wie es ein Boxer mit einem Sandsack getan hätte.
Ich trat näher. Lucas bemerkte mich überhaupt nicht – er schien seine gesamte Umgebung nicht mehr wahrzunehmen. Er schlug so kräftig gegen den Stamm, dass bei jedem Aufprall Stücke der
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