Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
festzuhalten und Opfer zu bringen. Oder an ihrer Einschätzung, wer ein Monster ist und wer nicht.«
Lucas biss die Zähne zusammen, und ich wusste, dass er an Kates Angriff dachte.
»Sie haben so viel von Ihnen verlangt, und was haben sie Ihnen zurückgeben? Nichts, außer einigen schlechten Angewohnheiten. Dazu gehört Ihr Hang, Regeln zu übertreten und einzubrechen.«
Ruhig entgegnete Lucas: »Bitte zwingen Sie mich nicht, die Schule zu verlassen.« Die Worte schienen ihn zu ersticken. Er hasste es, um irgendetwas zu bitten.
»Das Recht auf Zuflucht in Evernight bewahrt Sie davor«, sagte Mrs. Bethany. Ihre Stimme klang sonderbar. Zunächst konnte ich die Veränderung nicht richtig einordnen, bis ich begriff, dass sie tatsächlich … warm klang. »Ich habe nicht vor, Sie dafür zu bestrafen, dass Sie auf die einzige Weise handeln, die man Ihnen beigebracht hat. Das Schwarze Kreuz hat Sie gelehrt, heimlich zu agieren. Aber es gibt bessere Wege, die Dinge anzugehen. Ich hoffe, dass Sie sie hier lernen können.«
Ja klar, die Evernight-Akademie – der Hort der Rechtschaffenheit . Und was ist damit, dass man hier die menschlichen Schüler anlügt und ihnen verschweigt, dass die meisten ihrer neuen Freunde Vampire sind? Während ich mich solchen Gedanken hingab, konnte ich jedoch sehen, wie sich Lucas’ Gesichtsausdruck veränderte und die extreme Wachsamkeit von ihm abfiel. Mrs. Bethany sagte genau das, was er hören wollte.
Noch unglaublicher war, dass sie es tatsächlich selbst zu glauben schien.
»Und nun«, setzte sie fort, »sagen Sie mir, wonach Sie gesucht haben.«
»Ich wollte mehr Informationen über die Geister haben.«
Lucas, nicht ! Ich konnte es nicht fassen, dass er unsere Geheimnisse so mir nichts, dir nichts ausplaudern wollte.
Stattdessen aber fuhr er fort: »Ich habe gehört, dass die Geister letztes Jahr hinter Bianca her waren. Und ich verstehe nicht, warum Bianca sterben musste. Wenn die Geister etwas damit zu tun haben, dann will ich es wissen. Und ich will Rache.«
Mrs. Bethany richtete sich kerzengerade auf und war ganz augenscheinlich froh darüber, eine verwandte Seele gefunden zu haben. Lucas hatte sie überzeugt, dass er das gleiche Ziel wie sie verfolgte: die Geister zur Strecke zu bringen. Das war vermutlich der einfachste Weg, sie dazu zu bringen, sich zu öffnen. Ich hätte mehr Vertrauen in Lucas’ Vorgehen haben sollen.
Mrs. Bethany winkte Lucas zum Stuhl neben dem ihren, und Lucas nahm Platz.
»Soweit ich weiß, meinen die Geister, dass sie irgendeinen Anspruch auf Miss Olivier haben«, erklärte Mrs. Bethany. »Sind Sie mit den Umständen von Biancas Geburt vertraut?«
»Sie meinen die Tatsache, dass zwei Vampire kein kleines Vampirbaby haben können, ohne die Hilfe der Geister in Anspruch zu nehmen? Ja, das hat Bianca mir erzählt.«
»Es ist im Grunde wie im Märchen«, sagte Mrs. Bethany. Lucas warf ihr einen verblüfften Blick zu. »Ich nehme an, Ihre militante Mutter hat nicht viel Zeit damit verbracht, Ihnen die Geschichten der Brüder Grimm vorzulesen. Es reicht zu sagen, dass die zauberkundige Patin bei der Taufe gewöhnlich einen Fluch unter ihren Geschenken verbirgt. Und so war es auch bei den Geistern. Sie haben von Celias Blut getrunken und Celia und Adrian die Chance gegeben, Leben hervorzubringen, allerdings nur für eine gewisse Zeit.«
Lucas dachte darüber nach. Seine dunkelgrünen Augen waren auf die Fensteröffnung gerichtet. Auch wenn ich mir sicher war, dass er mich gar nicht richtig sehen konnte, wusste er doch genau, wo ich war. »Dann haben ihre Mom und ihr Dad die ganze Zeit gewusst, dass das passieren wird.«
»Um genau zu sein, haben ihre Eltern geglaubt, dass Bianca ihrem übermächtigen Vampir-Erbe folgen und töten würde, um so die Umwandlung zu vollziehen. Sie wussten, dass für Bianca die einzige Alternative der Tod sein würde.«
»Und ein gewöhnliches Mädchen zu sein …«
»… war immer unmöglich«, ergänzte Mrs. Bethany mit kühler Stimme. »Bianca wurde das Leben geschenkt, aber nur ein kurzes.«
Ich ließ mich zu Boden sinken und war nun ein Nebelstreif, der den schattenhaften Umriss meines Körpers annahm. Wäre in diesem Moment jemand vorbeigekommen, dann hätte er mich vermutlich sehen können, aber das war mir egal. Ich musste festen Boden unter den Füßen spüren und mich ausruhen. Es war nicht so, dass Mrs. Bethanys Worte mich verletzt hätten, ganz im Gegenteil: Alles fühlte sich seltsam und unwiderlegbar
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