Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
richtig an. Ich war erstaunt über meine Reaktion und mit einem Schlag vollkommen erschöpft.
Mrs. Bethanys Stimme wurde wieder sanfter: »Das zu hören ist schlimm für Sie, nicht wahr? Aber ich denke, irgendwann wird dieses Wissen Ihren Schmerz lindern. Sie hätten sie nicht retten können, Mr. Ross. Sie haben sie nicht mehr in Gefahr gebracht als ihre Eltern – auch wenn diese das nie verstehen werden.«
»Ich genauso wenig.«
»Sie halten den Tod noch immer für das Schlimmste, was einem geschehen kann, nicht wahr?«
»Ich weiß, dass es Furchtbareres geben kann, als tot zu sein«, sagte Lucas und betonte jedes Wort überdeutlich. »Das erfahre ich nämlich gerade.«
»Sie vermissen es, am Leben zu sein.« Ich erwartete, dass sie ihm sagen würde, wie töricht er sei; niemand schien mehr Vergnügen an seiner Existenz als Vampir zu haben als sie. Aber sehr leise fügte Mrs. Bethany hinzu: »Mir geht es genauso.«
Lucas fragte: »Dann wird es also nie besser?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
Erstaunen gewann die Oberhand über meine traurige Niedergeschlagenheit. Ich wurde wieder unsichtbar, sodass ich erneut durchs Fenster spähen konnte. Dort saß Mrs. Bethany und hatte eine Hand auf Lucas’ Schulter gelegt, sodass sich ihre dicken Fingernägel mit den tiefen Rillen dunkelrot von seinem schwarzen Pullover abhoben. Er schreckte vor ihrer Berührung nicht zurück.
Steht sie vielleicht auf ihn ? Augenblicklich verwarf ich diese Idee wieder; es war nicht diese Art von Geste. Es ließ sich allerdings nicht leugnen, dass sich ein Band zwischen den beiden gebildet hatte. In gewisser Weise konnte Mrs. Bethany in diesem Moment besser als ich verstehen, was in Lucas vorging.
Wortlos klopfte sie ihm auf die Schulter. Lucas reagierte auf die unausgesprochene Aufforderung und erhob sich. Mrs. Bethany begleitete ihn zur Tür des Kutschhauses – ohne sich darum zu scheren, dass er zuvor eingebrochen war – und den ganzen Weg zurück zum Schulgebäude. Sie trennten sich erst, nachdem sie die Große Halle betreten hatten: Einige Schüler, die während einer Freistunde mit Lernen beschäftigt waren, musterten die beiden Ankömmlinge voller Neugier. Zu ihrer Überraschung stellten sie fest, dass Lucas offenbar zum Lehrerliebling aufgestiegen war. Ich fragte mich, ob das die anderen Vampire abschrecken würde oder ob er nur noch mehr zu ihrer Zielscheibe werden würde.
»Der Englischunterricht ruft«, sagte Mrs. Bethany. »Ich will doch hoffen, dass Sie den Text gelesen haben?«
Lucas antwortete: »In der Tat habe ich den Fänger im Roggen schon vor einigen Jahren freiwillig gelesen.«
»Natürlich. Sie waren bei Ihren Studien vor allem auf sich selbst gestellt. Was denken Sie?«
»Dieser Holden Caulfield ist ein Versager, der im Selbstmitleid badet und seine Zeit besser nutzen sollte.«
Mrs. Bethany lächelte. »Auch wenn ich vielleicht vorsichtigere Worte wählen würde, decken sich unsere Einschätzungen im Grunde. Was bedeutet, dass ich Sie aufrufen werde, also machen Sie sich darauf gefasst.« Sie sah auf der altmodischen Golduhr an ihrem Handgelenk nach, wie spät es war. »Sie haben noch einige Minuten, falls Sie vielleicht duschen wollen.« Ihr Tonfall machte mehr als deutlich, dass sie der Meinung war, Lucas sollte diesen Vorschlag unbedingt in Betracht ziehen.
Dann ging sie ihrer Wege, und Lucas sprintete sofort die Treppe hoch, um zu tun, was sie gesagt hatte. Er lächelte. Es war ein breites Lächeln, als käme es tief aus seinem Herzen. Ich war beinahe eifersüchtig, denn ich fühlte mich eher wie ein Anhängsel als wie seine feste Freundin. Doch dann flüsterte er: »Kannst du das fassen?«
»Du bist wirklich ganz schön durchgeschwitzt von deinem Kampf mit Balthazar.«
»Nein, ich meine, kannst du fassen, dass sie mich einfach so vom Haken gelassen hat?«
»Nein. Aber auf der anderen Seite warst du schließlich sehr charmant.«
»Charme ist nicht gerade meine große Stärke.«
»Da bin ich aber ganz anderer Meinung.« Dann fügte ich vorsichtig hinzu: »Du weißt, dass du ihr nicht vertrauen darfst, nicht wahr?«
Lucas schwieg, während er in das Stockwerk mit den Jungenschlafräumen, wo auch sein Quartier lag, einbog. Als wir endlich sein Zimmer erreicht hatten, sagte er: »Trotzdem: Sie hat mich davonkommen lassen, und das hätte sie nicht tun müssen.«
»Sie hasst das Schwarze Kreuz, und ich glaube, dass sie Mitleid mit dir hat wegen all dem, was du mit ihnen erlebt hast. Aber … sie
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