Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
dass er so verzweifelt bemüht war, seinen Blutdurst zu bekämpfen. Vielleicht würde Mrs. Bethany ihm das geben können, was er am meisten in der Welt begehrte.
»Können wir uns wieder unserem eigentlichen Thema zuwenden?« Patrice klopfte mit einem ihrer makellosen, lila lackierten Fingernägel auf den Spiegel. »Okay. Es hilft, wenn du einen Lufthauch gespürt hast oder einen Windzug, irgendetwas, das dir verrät, in welche Richtung der Geist unterwegs ist. Wenn er sichtbar ist, ist die Sache natürlich ganz leicht. Wenn nicht, dann muss man achtgeben, ob man irgendwo kalte Luft spürt, irgendwelche Anzeichen von Frost entdeckt und so weiter und so weiter. Und dann muss man den Spiegel im rechten Winkel dazu schwenken.«
»Als wäre er ein Fanghandschuh beim Baseball. Und der Geist landet geradewegs darin?«
»Wenn es nur das wäre.« Patrice zögerte. »Aber du musst an deinen eigenen Tod denken.«
Verblüfft fragte ich: »Wieso das denn?«
»Du musst sogar mehr als nur daran denken. Du musst ganz und gar von der Erinnerung daran erfüllt sein. Es muss so sein, als würdest du aus deinem Innersten heraus … auf einer Todesfrequenz schwingen oder so ähnlich. Du musst einen Weg finden, den Geistern gleich zu werden. Wegen dieser Schwingungen nähern sie sich dir, und dann entfaltet der Spiegel seine seltsame Wirkung.«
Sie brauchte mir nicht zu erklären, was sie mit der »seltsamen Wirkung« eines Spiegels meinte. Es gehörte zu den ungelösten Rätseln des Vampirseins, warum Spiegel aufhörten, ein Bild zurückzuwerfen, wenn ein Vampir zu lange kein Blut getrunken hatte. Das Phänomen ergab keinen Sinn, und doch war es zu beobachten. Niemand von uns verstand es, obwohl wir alle es respektierten.
Patrice fuhr fort: »Für dich sollte es leichter sein als für Vampire, denn ich schätze, du kannst ganz leicht mit den Geistern im Gleichklang schwingen. Aber dieser Trick würde bei einem Menschen keine große Wirkung zeigen.«
»Okay. Das klingt ja ganz leicht.«
»Das klingt leicht?«, wiederholte sie spöttisch. »Man braucht schon ein paar Versuche, um es zu lernen, jedenfalls war das bei mir so.«
Unsere Blicke kreuzten sich, und ihre vorgespielte Gleichgültigkeit fiel von ihr ab. Ich musste entsetzlich verängstigt ausgesehen haben.
»Sie erschrecken mich«, sagte ich. »Ich bin zwar selber ein Geist, aber … Ich weiß auch nicht.«
»Du bist stark, Bianca.« Patrice flüsterte nun. Ich hatte sie noch nie zuvor so ernst und so düster erlebt. »Viel stärker, als ich es je bei jemandem erwartet hätte, der noch so jung ist. Wenn irgendeiner den Geistern entgegentreten kann, dann bist du es.«
»Ich weiß nicht, ob ich Angst habe, dass sie mir etwas tun oder …«
»Oder was?«
»Oder dass sie mich von hier wegbringen, von Lucas und euch anderen. Und dass sie mich davon abhalten, je wieder zurückzukommen.«
Patrice schüttelte den Kopf. Die Lampe hinter ihr schien ihre Locken glühen zu lassen. »Dich doch nicht. Ich weiß, dass du immer deinen Weg nach Hause finden wirst.«
Ich wünschte, ich wäre da ebenso sicher gewesen.
Als Patrice mein Zögern bemerkte, richtete sie sich auf und strich sich ihre maßgeschneiderte Uniform glatt. »Wir müssen dir einfach ein richtiges Zuhause schaffen, in das du zurückkommen kannst.«
»Wohin gehen wir denn?«, fragte mich Lucas, als ich ihn die Wendeltreppe im Turm mit den Jungenschlafräumen emporführte. »Macht das mehr Spaß als Astronomie?«
»Du hast immer so getan, als ob du dich so wie ich für Astronomie interessieren würdest.«
»Stimmt ja auch. Aber für dich interessiere ich mich noch mehr.«
»Es ist ein Geheimnis«, sagte ich und fuhr ihm als kalter Windstoß durch die Haare. »Du wirst schon sehen, wenn wir dort sind.«
Auf dem Weg nach oben kam uns Samuel Younger entgegen, und ich konnte spüren, wie angespannt Lucas wurde, als sich die beiden einander näherten.
Samuel sagte: »Na, du Freak, redest du wieder mit dir selber?«
»Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, wenn man mal eine intelligente Unterhaltung führen will«, antwortete Lucas. Samuel zeigte ihm den Mittelfinger, ging aber ansonsten wortlos an ihm vorbei.
Als wir wieder ganz allein waren, sagte ich: »Wir müssen einfach besser aufpassen.«
»Mach dir mal keine Sorgen. Außerdem ist es erstaunlich, was den Leuten alles nicht auffällt.«
Zu diesem Zeitpunkt waren Lucas und ich beinahe ganz oben im Turm angekommen: im alten Aktenraum. »Wie auch immer.
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