Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
ließ mich fort.
»Bist du dir ganz sicher, dass du das lernen willst?« Patrice verschränkte die Arme vor der Brust und musterte mich so ernst wie Mrs. Bethany während der Zwischenprüfungen.
Die ehrliche Antwort lautete »Nein«, denn ich war mir ganz und gar nicht sicher. In gewisser Weise war das genauso furchteinflößend, wie es die Ausbildung beim Schwarzen Kreuz gewesen war. Es war einfach kein gutes Gefühl, herauszufinden, wie man Wesen wie mich am besten angreifen konnte.
Aber nur, wenn ich meine eigenen Fähigkeiten ausbildete, würde ich mich irgendwann befreien können. Und das wiederum hieß, dass ich erfahren musste, wie man sich gegen Geister zur Wehr setzen konnte, wenn es nötig war.
»Lass uns anfangen«, sagte ich.
Patrice nahm ihre Puderdose heraus, in der sich ein kleiner Spiegel befand. »Um einen Geist zu fangen«, setzte sie an, »musst du zuerst bemerken, dass überhaupt einer in deiner Nähe ist.«
»Schon erledigt.« Patrice starrte mich empört an, weil ich es gewagt hatte, sie zu unterbrechen. »Ich habe da gewisse Vorteile, okay?«
»Verstehe. Also pass genau auf.« Sie klappte langsam und mit übertriebenen Bewegungen die Dose auf, als wäre sie selbst eine Grundschullehrerin. Ich hätte gekichert, wenn die Situation nur ein bisschen weniger ernst und die Umgebung ein bisschen weniger gespenstisch gewesen wäre. Draußen fiel schon den ganzen Tag lang schwerer, kalter Regen, der dem Himmel jede Farbe außer Grau entzogen hatte. Obwohl Patrice beide Lampen in ihrem Zimmer angemacht hatte, konnte sie der trüben Stimmung draußen nichts entgegensetzen. Eines der Lichter tanzte auf dem Spiegel in der geöffneten Puderdose und ließ kleine Lichtpunkte über die steinernen Wände rings um uns herum huschen. »Du musst die Puderdose öffnen, sobald du die Anwesenheit eines Geistes gespürt hast, aber bevor du ihm tatsächlich begegnet bist. Es ist nicht wie bei Mrs. Bethanys Fallen – ein Geist kann einem Spiegel widerstehen, wenn er weiß, dass ein Angriff bevorsteht.«
Diese Erklärung erschien mir trotz meiner Angst komisch. Als ich zu grinsen begann, legte Patrice verwirrt den Kopf schief. »Tut mir leid«, sagte ich. »Es ist nur einfach so seltsam zu hören, wie du davon sprichst, jemanden oder etwas anzugreifen.«
»Wie bitte?«
»Du weißt schon: Machst du dir denn gar keine Sorgen darum, dir einen Fingernagel abzubrechen oder so?«
Patrice sah verärgert aus, bis sie begriff, dass ich sie nur aufziehen wollte. Sie hob eine Augenbraue. »Hattest du etwa das Gefühl, dass ich aus dem Grund Angst hatte, als ich es den Typen vom Schwarzen Kreuz gezeigt habe?«
»Ganz und gar nicht«, sagte ich.
»Na, siehst du. Ich bin vielleicht ein bisschen aus der Übung, aber ich habe für mein Leben mehr als genug getötet. Man bekommt so schlechten Atem vom Bluttrinken. Wenn du mich fragst, dann sollte man an der Evernight-Akademie Körperpflege unterrichten. Wenn ich mir manche Leute hier so angucke, dann weiß ich, dass sie keine Ahnung davon haben.«
Ich wollte nicht darüber lästern, wer alles vom Bluttrinken Mundgeruch hatte. »Du hast … viele Menschen getötet?«
»So viele nun auch wieder nicht«, entgegnete Patrice leichthin. »Nur ein paar Sklavenbesitzer und hinterwäldlerische Sheriffs aus früheren Tagen. Wenn du vor der Unabhängigkeitserklärung in diesem Lande schwarz warst, dann hat immer irgendjemand versucht, dir deine Freiheit zu nehmen. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Im übertragenen Sinne ist das immer noch so. Aber seitdem ich eine Vampirin bin, macht mir das nicht mehr so viel aus.«
Praktisch jeder Vampir, den ich je kennengelernt hatte, hatte irgendwann getötet. Mit Ausnahme meiner Eltern, obwohl die es mir vielleicht auch einfach nicht erzählt hatten. Selbst die Besten von ihnen, wie Patrice oder Balthazar, hatten Menschen umgebracht und von ihnen getrunken. Balthazar hatte vor allem während des Krieges gemordet, und Patrice konnte ich es nicht verübeln, dass sie sich gegen jeden zur Wehr gesetzt hatte, der sie versklaven wollte. Aber das änderte nichts an der Tatsache: Sie hatten menschliches Blut getrunken. Balthazar hatte seine eigene Schwester getötet, und unter den Folgen davon hatten wir noch immer zu leiden.
Bedeutete das, dass es für Lucas wirklich keine Wahl gab? Dass er früher oder später die Kontrolle verlieren würde? Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sich das niemals würde verzeihen können. Kein Wunder,
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